Tauben am Fenster und andere Geschichten. Sigrid Dobat
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In der Nacht, bevor das Durchsieben und Schlämmen von Sand und Humus beginnen sollte, um Scherben und Eisen herauszuspülen, wehte es heftig. Der frei gelegte, lockere Kies würde aufgewirbelt werden. Morgen müsste das Team erneut die Pfostenlöcher frei schaufeln, damit sie zu erkennen sein würden. Bisher waren sie vermessen, im Computer gespeichert und jederzeit als präzise Skizze abrufbar. Ich hätte also ruhig sein können in dieser Nacht. Außer einem überschaubaren Zeitverlust gab es nichts zu befürchten.
Doch mit zunehmendem Wind zog es mich hinaus aus dem Bauwagen in die Nacht, hinaus auf die Kiesfläche. Mal bedeckten Wolkenfetzen den vollen Mond, dann wieder gaben sie das helle Licht des Mondes frei, als hätte jemand den Schein einer Laterne über den Kies geworfen. Ich stand still inmitten der Kiesfläche und spürte, wie der Wind in meinen Haaren und Kleidern riss. Atemlos beobachtete ich das wechselvolle Spiel von Licht und Dunkelheit, bis mich ein schwarzer Schatten erschreckte, den ich seitlich an dem höchsten Hügel aufgehäuften Mutterbodens entdeckte. Er schien hastig und zugleich mühsam den Hügel empor zu laufen, oben auf dem höchsten Punkt zu verharren, einem Feldherren gleich, um urplötzlich hinter dem Hügel zu verschwinden. Hinten an der Hecke, die die Kiesfläche an einer Seite begrenzte, huschten, hasteten Schatten auf und ab. Und stets, wenn ich etwas zu erkennen glaubte, schoben Wolken die Schatten fort, die eben noch da waren. Je länger ich in den Wechsel von Mondlicht und Dunkelheit starrte, je mehr belebte sich in meiner Wahrnehmung die einstige Stadt, ich war mir sicher, menschliche Wesen zu erleben. Unten am tiefen Ufer der Au, über die in früheren Zeiten flachkielige Schiffe in die Schlei hinein fuhren, glaubte ich Rufe zu hören, Hammerschläge auf Eisen, auf Holz. Als wäre der Hafen der Stadt neu belebt, als arbeiteten die Menschen in ihrem Tagwerk, nur dass jetzt Nacht war, stürmische, dunkle Nacht, durchbrochen von diffusem Mondlicht.
Gerade entschloss ich mich, hinunter zum Ufer der Au zu steigen, als ein heftiger Windstoß den Kies vor mir zu einer unglaublich mächtigen Sandwolke aufstieb, Sandkristalle glitzerten im matten Gelb des stobenden Sandes. Unwillkürlich hielt ich meine Hände vor das Gesicht, doch ich spürte die Faszination dieses Augenblicks. Ich wollte dieses Naturereignis sehen. Bald schützend, bald sich öffnend gaben meine Hände nach und ich sah hinein in die Sandwolke, unwirklich vom Mondschein durchschienen.
Und dann geschah das Unfassbare: Die Sandwirbel stiegen, lösten sich auf, verdichteten sich abermals, schmolzen zusammen, verschmolzen zu wallendem Stoff, goldfarben wie der Sand, verschmolzen zu einer Gestalt. Ich erkannte eine junge Frau. Ihr Gewand blähte sich, tanzte, wickelte sich um die zarte Gestalt im Rhythmus der Windschübe. Das Haar hatte sich mit dem Wind um den Kopf der Frau geschlungen, bedeckte ihr Gesicht.
Und ebenso plötzlich, wie der Wind den Sand empor gewirbelt hatte, ließ er nach. Das lange Haar löste sich vom Gesicht, fiel herab auf die Schultern. Gebannt sah ich, wie der Mond hell in das Gesicht schien. Wenn auch der Mond mir eine noch nie vorher gesehene Schönheit offenbarte, erschreckten mich ungewöhnlich blasse Augen, die gläsern und blicklos in die Weite starrten.
Doch war mir, als lächelte der Mund.
Ich weiß nicht, wie lange ich die Erscheinung angestarrt hatte, als plötzlich ihr Mund sich leicht öffnete und etwas Glänzendes zwischen ihren Lippen erschien. Im Mondlicht sah ich deutlich: Eine leuchtend blaue Perle war hervorgetreten, blieb für Momente zwischen den Lippen, bis die Frau vorsichtig die Perle zwischen Zeigefinger und Daumen nahm und mit einer schnellen Bewegung des Arms hinter sich warf.
Unvermittelt stand ich wieder in der Dunkelheit. Der Mond bedeckt von einer tiefen Wolke, die Sandwirbel fort, als hätte es sie nie gegeben. Noch spürte ich den Wind an dem Stoff meiner Jacke zerren, ich spürte mein Herz schlagen, versuchte wieder klare Gedanken zu fassen. Bald würde die tiefe Wolke vorüber gezogen sein, dann würde ich die junge Frau, zumindest aber mich wieder finden können hier in dem Grabungsgelände.
Ich wartete. Dann lösten die Wolken sich auf, meine Augen gewöhnten sich allmählich an das matte Licht. Ich erkannte, dass ich zwischen zwei mächtigen Pfostenlöchern stand, die sich blass im Kies abzeichneten. Der Wind hatte eine feine Sandschicht über die dunklen Humusflächen gelegt. Die schöne Gestalt war fort, die Schatten, die ich eben noch die Erdhügel auf und ab laufen sah, verschwunden. Die Stille erschreckte mich, kein ferner Hammerschlag mehr, Stille. Der Wind schwieg und dennoch fühlte ich ihn leicht in meinem Gesicht.
Ich stand im Eingang des am Tage zuvor frei geschobenen Hauses, links und rechts neben mir die kräftigen Pfosten, vom Sand zugedeckt, aber schwach erkennbar. Die Frauengestalt muss in dem Haus gestanden haben, wenige Meter von mir entfernt, umgeben von Pfostenlöchern, die einst die Wand gebildet hatten. Etwas hinderte mich in dieser dunklen Nacht, durch die Eingangspfosten in das Haus hineinzugehen, in dem einst Menschen gelebt hatten. Benommen von dem unwirklichen Ereignis legte ich mich schlafen.
Am anderen Morgen erwachte ich schwer. Ich spürte Sand zwischen meinen Zähnen. Draußen hörte ich das knirschende Schaben von Schaufeln im Kies.
Mein Grabungsteam hatte damit begonnen, den Sand von den dunklen Pfostenlöchern zu schaufeln. Dann aufgeregtes Rufen, jemand klopfte ungeduldig an den Bauwagen, offenbar verwundert über mein spätes Erwachen.
Im Kies hinter den Eingangspfosten inmitten des Hauses hatten sie eine Perle gefunden. Ich wusste sofort, noch bevor ich sie betrachten konnte, es war die blaue Perle, die die schöne Frau in der Nacht zwischen ihren Lippen gehalten hatte. Als ich sie sah, glänzte sie im Licht des frühen Morgens. Und in meiner Handfläche fühlte sie sich feucht an.
Äußerlich nahm ich Anteil an der Freude meines Teams über den Perlenfund, jedoch blieb bei mir das stille Erstaunen über das nächtliche Ereignis, über das ich mit niemandem sprach. Das schöne Gesicht mit den toten Augen jedoch erschien mir immer wieder im Schlaf, wenngleich das Ereignis sich nicht wiederholte, so oft ich mich auch nachts in das Grabungsgelände begab.
Es sollte viel Zeit vergehen, bis ich meine Ruhe wieder fand. Als Wissenschaftler schwankte ich zwischen der mystischen Erfahrung dieser Nacht und der Suche nach einer Erklärung. Wer würde einen Wissenschaftler ernst nehmen, der sich phantastischen Erscheinungen hingab? Und doch: Durch die nächtliche Erscheinung der schönen jungen Frau fand ich meine Arbeitshypothese, die ich nur noch beweisen musste. Ich erinnerte mich an Skelettfunde mit Perlen im knöchernen Kiefer, für die die archäologische Wissenschaft lange keine Erklärung hatte. Unbeachtet lagen die Schädel in den Archiven, kleine Hinweisschilder an den Kieferknochen befestigt, die auf die einst im Schädel liegende Perlen hinwiesen. Die Perlen selbst entfernt und in den Asservatenkammern der Museen verwahrt.
Durch die nächtliche Schöne fand ich den Zusammenhang. Ich fand heraus, dass man in früher Zeit den Toten Glasperlen unter die Zunge legte. Die leeren, gläsernen Augen der Frau hatten mich darauf hingewiesen. Und die nasse blaue Perle zwischen ihren lächelnden Lippen.
Die Perlen unter der Zunge waren das Entgelt für den Fährmann, der die Toten mit seinem Kahn über den Fluss ins Totenreich bringen sollte.
Die Geschichte erzähle ich erst jetzt, da alles bewiesen ist.
Vorher hätte mir niemand geglaubt.
Ich denke, auch Sie nicht.
PEPITA 1968
„Die Kinder schlafen“, sagt der Mann freundlich, „wenn Sie nur ab und an nach ihnen sehen würden. Sie können sich in der verbleibenden Zeit mit Ihrer Arbeit befassen.“ Er lächelt. Marga forscht in seinem Gesicht. „Gönnerhaft, gönnerhaft ist das Lächeln“, hatte Eberhard gesagt, ohne es je gesehen zu haben. Sie sucht in diesem Lächeln. „Ist noch was?“, fragt der Mann und zögert. Irritiert greift sie nach ihrer Mappe, legt die Arbeitsbücher auf den Küchentisch.