Tauben am Fenster und andere Geschichten. Sigrid Dobat
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„Nimm das hier“, sagte jemand, „nimm das hier, Bowie!“ So hieß ich im Zenith: Bowie. Wie der große Bowie. Seinen Namen gaben sie mir. „Nimm das hier, Bowie!“, sagten sie. Und ich nahm, ich flog, die Wolken dicht, neongrün und dicht. Selten kamen die Songs. „Nimm mehr, Bowie!“ Und ich nahm. Die Wolken summten, das Licht grell, um mich herum Geräusch, Lärm, gleißendes Licht. Keine Lieder. Mein Mund voll grüner Wolke, ohne Stimme, ohne Lied.
Schritt für Schritt, irgendwo hin, irgendwas entgegen. Hinein ins Licht, ins gleißende Licht, ins schreiende Neongrün.
„Nimm mehr“, sagte ich zu Bowie. Und ich nahm.
HIMBEEREN, SOMMER 1947
Sie sind reif, die Himbeeren am Tannenberg. Eine wichtige Nachricht für das Dorf. Es wird Marmelade geben für den kommenden Winter, die Kinder werden rote Münder haben, die Mütter werden wenig davon essen, eine Messerspitze voll vielleicht für die Scheibe Brot. Die Kinder werden vom Brot abbeißen und lachen über den Abdruck ihrer Zähne im Brot und in der Marmelade, die kleineren über ihre Zahnlücken. Und die Mütter werden froh sein über den stumpfen Abdruck der kleinen Gaumen. Das Kind wird groß, die schwerste Zeit ist überwunden, werden die Mütter denken und die Kinder lachen.
Sie hat ihr Mädchen bei der Nachbarin gelassen. Der ganze Tag oben auf dem Tannenberg bei der Hitze wäre zu viel für das kleine Kind. Der Nachbarin wird sie später Himbeeren abgeben.
Sie spürt eine starke, frohe Zufriedenheit. In ihren Beutel legt sie eine Flasche Wasser, sie wird davon trinken am Tage. Die Milchkanne mit dem Deckel wird sie in der Hand tragen. Sie ist zu groß für den Beutel.
Die Himbeeren werden die Kanne füllen zunächst, während des Tages werden die Beeren zusammensacken, sie wird nicht mehr voll sein, wenn sie wieder zurück sein wird.
Am Abend, wenn das Kind schläft, wird sie die Marmelade einkochen, etwas Zucker ist noch da, in den Läden gibt es keinen mehr. Während der Zeit der reifenden Früchte sind die Lager schnell leer gekauft.
Schon am frühen Morgen ist dieser Tag heiß, die Straße durch das Dorf staubig. Sie fühlt sich getragen von der Freude auf die Beeren, auf die Gesellschaft der anderen Frauen. Sie weiß, es werden viele oben am Tannenberg sein und die Fahrt dorthin fröhlich. Ihre Beine werden zerkratzt sein, wenn sie zurück kommt. Die kleinen Hände ihres Mädchens werden über die Wunden streichen.
Am Bahnübergang steht der Pferdewagen. Frauen sitzen auf dem Leiterwagen, die seitlichen Bänke sind besetzt, nur hinten auf den Bodenbrettern ist noch Platz. Sie will mitfahren, es ist weit zum Tannenberg. Sie winkt, läuft auf den Wagen zu, ihren Rock rafft sie hoch, hält den Stoff zusammen mit der Kanne in der Hand, der Bauer soll sie mitnehmen. Sie sieht, wie er nach hinten blickt, ihren nackten Beinen entgegen. Sie erkennt diesen Blick nicht, sie sieht, wie er die Bremse des Leiterwagens langsam löst. Und sie läuft eilig dem Wagen entgegen.
Der Deckel der Kanne scheppert leise, als sie den Stoff ihres Rockes wieder fallen lässt.
Frauenhände helfen ihr hoch, ein kleiner Tritt hinten am Leiterwagen nimmt sie auf. Jetzt sitzt sie mit den anderen Frauen auf dem Wagen, die Pferde ziehen an, es ruckt. Ihre Beine schaukeln im Takt der Sandlöcher. Die Frauen kennen sich, sie kennen sich von den langen Warteschlangen vor den Läden, von den Spazierwegen mit den Kindern, sie schwatzen miteinander. Oben auf dem Berg wird es anders sein, die Kannen sind groß und der Winter lang.
Doch sie fühlt diesen Moment, er ist Freude, ein Tag ohne Fürsorge, ein Sonnentag nur für sie allein und ein Tag der Erwartung auf Beeren, auf die Düfte des Tannenberges. Sie verliert sich in diesen Tag, sie beginnt zu singen. Einige Frauen singen zaghaft mit. Ihre Stimmen sind klein, aber sie singen. Am Straßenrand werden Menschen aufmerksam. Wer singt in dieser Zeit? Sie sehen staunend auf die Frauen, sie sehen sie winken vom Wagen herunter, lachen, und sie sehen die schönen schaukelnden Beine der jungen Frau.
Am Berg ist es anders, es wird stiller auf dem Wagen, je weiter das Pferd den Wagen hinaufzieht. Schließlich verstummt das gemeinsame Lied. Das Lauern beginnt. Wer wird wohin gehen? Wo scheint die Sonne am längsten, wo werden die Beeren am süßesten sein?
Sie kennt eine Stelle, sie liegt weiter oben am Berg. Es ist wichtig, dass die anderen ihren Weg nicht erkennen, sie sucht umher, will den Eindruck erwecken, nicht zu wissen, wo sie pflücken wird. Der Bauer auf dem Wagen wartet. Sie auch, sie wartet, bis die anderen Frauen sich zerstreut haben. Seinen Blick spürt sie im Rücken. Auch er soll nicht wissen, wohin sie geht. Dann hört sie die Peitsche des Bauern in der Luft schnalzen, hört das Pferd schnaufend antworten, dann knirschen die Räder des Leiterwagens auf dem sandigen Weg und sie glaubt das Fuhrwerk auf dem Weg zurück ins Dorf.
Jetzt singt sie wieder, sie sucht ihren Weg. Allein. Die Räder des Wagens hört sie nicht mehr. Höher und enger wird der schmale Pfad, Dornen halten sie fest, sie löst sie sorgsam vom Stoff, will den Rock nicht zerreißen, weiter und höher geht sie. Hin zu den Himbeeren, die sie ganz oben in der Sonne weiß, an einer Stelle, die nur sie kennt. Sie wird bald dort sein.
Es ist still am Berg, dort wo die Büsche dicht stehen. Weiter oben in der Sonne kommen die Insekten, vielfältiges, schnelles Surren, ein scharfer, beißender Ton. Sie fühlt die klebrigen Insektenbeine in ihrem Schweiß, streift sie von ihren Armen, aus ihrem Gesicht. Ihr Lied bleibt zurück in dem Gestrüpp von Büschen und Dornen.
Sie fühlt staunend einen plötzlichen, kurzen Schmerz hinter sich, als würde er nicht zu ihr gehören. Als der Schmerz sie erreicht, spürt sie, wie der Beutel von ihrer Schulter gleitet. Das Splittern der Trinkflasche hört sie nicht mehr.
Am nächsten Morgen erst fand man sie. Sie lag weit unterhalb am Berg, an einer Stelle, an der keine Himbeeren wachsen, versteckt unter Farn, unter Tannen.
Der Bauer hatte am Abend zuvor in eine Richtung gewiesen. Es war die falsche. Man fand sie dort nicht, nur Glassplitter und eine leere Milchkanne fand man, bevor es dunkel wurde am Berg.
Jetzt knirschen die Räder des Leiterwagens auf dem Sandweg zurück ins Dorf. Sie liegt allein auf dem Wagen.
Sie liegt auf den Brettern des Wagenbodens, ausgestreckt, die Beine zerkratzt, ein Tuch bedeckt ihren Körper. Ein Arm ist durch die Leitersprossen des Wagens gefallen. Er schaukelt im Takt der Sandlöcher.
EIS, WINTER 1947
Das Mädchen trat aus dem Haus, schloss die Tür hinter sich. Es musste noch einmal nach dem Türgriff fassen, er war ihr unter den Handschuhen entglitten. Sorgsam vergewisserte das Mädchen sich, dass die Tür ins Schloss gefallen war, indem sie mit dem Fuß gegen das Holz der Tür drückte.
Als es die Stufen zum Gehweg hinunter sprang, klirrten die metallenen Schlittschuhe, die es an dünnen Lederriemen trug, heftig aneinander. Das Mädchen schob die Lederriemen über die wollenen Handschuhe in die andere Hand, hob das metallene Bündel Schlittschuhe hoch, versicherte sich, dass der breite Schlüssel, der die Metallkufen an die Schuhe schrauben soll, am Riemen hing.
Dann bog das Kind auf den Gehweg ein an diesem Wintertag. Die Straße still, kalte Feuchtigkeit umschloss das Kind, schloss Geräusche aus, reduzierte auf das Knirschen der kurzen, kleinen Schritte im Schnee. Und das Geräusch des klappernden Metalls.
Das Kind hielt inne, legte die Schlittschuhe ab und versuchte, die grauen Strickstrümpfe