Wiener Wahn. Edwin Baumgartner
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Was ist das für ein herrlich bunter Vogel gewesen, die Reichsgräfin Triangi! – Seien Sie so gut, trinken wir jetzt unseren nächsten Schluck Kaffee auf sie. Und dann erzähle ich Ihnen vom Baron Karl69.
Der Baron Karl ist grad so ein Baron gewesen wie die Triangi eine Reichsgräfin und die Maria Theresia eine Kaiserin. Wobei die Triangi der Reichsgräfin und die Maria Theresia der Kaiserin näher gewesen sind als der Karl dem Baron. Er hat aber nun einmal so geheißen, nämlich Baron.
In Wien gibt’s halt diesen feinen Unterschied in der Betonung, der aus einem ganz normalen Bürger einen Adeligen macht und umgekehrt. Betonen Sie den Baron auf der ersten Silbe, ist es ein Name, ganz so wie Fiala oder Haberl oder Swoboda. Betonen Sie den Baron auf der zweiten Silbe, ist es – na ja, jetzt heißt’s vorsichtig sein: Es hat in Österreich nie einen Baron gegeben. Der österreichische Baron ist immer der Freiherr gewesen, aber irgendwie haben sich grad die Wiener mit dem Freiherrn nie arrangieren können, darum haben sie den Freiherrn immer Baron genannt.
Der Karl hat jedenfalls Baron geheißen, Betonung, wie Sie sich denken können, auf der ersten Silbe. Ob er Vor- und Nachnamen selbst umgestellt und die Betonung vom Baron um eine Silbe nach hinten verschoben hat, oder ob das auf dem Mist von seinen Hawaran70 gewachsen ist, weiß keiner. Es ist auch nicht wichtig. In die Wiener Stadtgeschichte eingegangen ist der erstsilbig betonte Karl Baron als zweitsilbig betonter Baron Karl – haltaus71, das stimmt auch nicht ganz. Die Lektorin meines Vertrauens kennt eine uralte Frau, die ihrerseits den Baron Karl gekannt hat, und die behauptet steif und fest, in Favoriten72, wo er eine lokale Größe gewesen ist, hat man ihn nicht zweitsilbig betont Baron Karl genannt, sondern man hat den Namen in einem ausgesprochen, also Baronkoal, und das mit Betonung auf der ersten Silbe, und sie weiß gar nicht, wie manche auf die Idee gekommen sind, den Baronkoal jemals anders auszusprechen, obwohl sie weiß, dass es einige gemacht haben.
Sowieso ist der Baron Karl alles Andere gewesen als ein noblichter73 Herr. Der Baron Karl ist ein Sandler74 gewesen. Nach dem ersten Weltkrieg scheint er ein bürgerliches Leben angestrebt zu haben, aber eine unglückliche Liebesgeschichte hat ihn aus der Bahn geworfen. Seither ist er als Sandler durch Wien gezogen. Er hat in Streusandkisten übernachtet oder in einer Erdhöhle am Wienerberg bei den Ziegelteichen, wo er gewissermaßen hergekommen ist. Sein Vater ist nämlich Ziegelarbeiter Am Wienerberg gewesen. Seine Schwester hat dreimal versucht, ihn von der Straße zu holen. Jedesmal hat sie ihm ein Kabinett eingerichtet. Alle dreimal aber widerfährt dem Baron Karl das gleiche: ein Dieb dringt bei ihm ein, und stiehlt ihm seine wenigen Habseligkeiten. „Mochd nix“, soll der Baron Karl gesagt haben, „ea wiad s bessa brauchn oes wia r i.75“
Im Favoritner Wochenblatt76 findet sich eine Beschreibung, wie der Baron Karl ausgeschaut hat: „Ein mittelgroßer, rundlicher Mann, das Gesicht von einem wirren Vollbart umrahmt, um den Leib einen weiten Mantel, den er auch als Schlafdecke verwendete, und in dessen unergründlichen Falten zwei Reindln, ein verbogener Zinnlöffel, ein Wecker, eine Geige samt Fiedelbogen und andere Schätze verborgen waren. Sommer und Winter legte er diesen weit von ihm abstehenden Mantel, unter dem er seine ,Einrichtung‘ trug, nicht ab. Auf dem Kopf aber trug er meist ein wahres Unikum von Hut: die Reste eines verbeulten ,Steifen‘. Seine Augen konnten beim Reden lustig blinzeln, bisweilen aber nahmen sie einen melancholischen Ausdruck an. Besonders nach dem reichlichen Genuß von Bierresten, die er aus den fast leeren Fässern vor den Wirtshäusern in sein Reindl zu leeren pflegte. Viele Kinder und Erwachsene umringten ihn oft, aber seltsamerweise spotteten sie kaum über ihn – es lag ein gewisses Etwas über diesem pittoresken Fasseltippler, ein Etwas, das ihm trotz aller Verwahrlosung die Sympathie seiner Mitmenschen eintrug.“
Das Gesicht vom Baron Karl ist wettergegerbt gewesen. Er hat einen struppigen Vollbart gehabt. Von vorne, sagen die Wiener, die ihn noch erlebt haben, hat er ausgeschaut wie der Sokrates und von der Seite wie der Liebe Augustin. Ersparen Sie mir bitte die Frage, wie denn der Liebe Augustin, von dem keiner weiß, wie er ausgeschaut hat, ausgeschaut hat. Ich müsst’ ihnen antworten: Grad so hat der liebe Augustin ausgeschaut wie der Baron Karl von der Seite. Dafür gibt es den Wiener Schmäh als Zeugen, und wenn Sie dem nicht glauben, ist für Sie sowieso Hopfen und Malz verloren in Wien.
Apropos Schmäh: Der hat natürlich um den Baron Karl einen Marathonlauf hingelegt, so grennt ist er, der Schmäh, was halt damit zu tun gehabt hat, dass offenbar nur die Favoritner gewusst haben, wie man den Namen richtig ausspricht. Und die haben es wohl nicht weitergesagt. Einmal nämlich ist das Gerücht umgegangen, der Baron Karl sei ein heruntergesandelter77 Adeliger, dann wieder hat es geheißen, weil man überrascht gewesen ist über die Klugheit vom Baron Karl, er sei ein gefallener Lehrer. Sein Vater hat nämlich, so gut er es als Ziegelarbeiter vermocht hat, bei seinem Sohn auf Bildung geachtet. Deshalb hat der Baron Karl Harmonika gespielt und auch Geige. Gelernt hat er Möbeltischler, aber das Handwerk hat er nur kurz ausgeübt.
Der Baron Karl ist ein gutmütiger Mensch gewesen, nur im Winter hat er an kalten Tagen zu randalieren angefangen und so lang Bahöö78 gemacht, bis die Polizei ihn verhaftet und in den warmen Arrest gebracht hat. Er ist kein richtiger Bettler gewesen. Ein Bettler geht ja auf die Leute zu und bittet sie um eine Gabe. Der Baron Karl hat indessen nie gebettelt. Betteln ist unter seiner Würde gewesen. Er hat kleine Hilfsarbeiten für Wirte und Marktstandler auf dem Viktor-Adler-Markt erledigt, und sowieso haben ihn alle Favoritner gekannt. So haben ihn Wirte und Standler und Branntweiner79, aber auch der eine oder andere, der gewusst hat um seine Lage, eingeladen.
Um die ruppigen Weisheiten vom Baron Karl ranken sich eine Menge Anekdoten, aber niemand weiß, was davon wahr ist und was erfunden, weil der Baron Karl halt wirklich eine lokale Größe gewesen ist. Einmal stänkert ihn so ein hochnaserter Kerl an: „Ich versteh nicht, wie Sie in diesem Dreck leben können. Sie sind ja wie ein Ungeziefer!“ Sagt der Baron Karl: „Sigst, i beitl mein Dreg jedn Dog in da Fruah aus. Mei Dreg is nämlich außn. Oaw Se, liawa Hea, in eanara sauwan Wäsch – se kennan ian Dreg ned ausbeidln. San se gaunz gwiss, dass se ka Ungeziefa san?80”
In der NS-Zeit ist er in diversen Obdachlosenheimen untergebracht worden. Vom Stänkern hat er auch da nicht lassen wollen. Den Gauleiter Bürckel81 hat er „Bierleiter Gauckel“ genannt, und ein anderes Mal hat er gesagt: „Wenn einer dumm ist, geht er zum Militär, dort kann er Spieß werden, und wenn er noch dümmer ist, wird er Gauleiter.“
Am 13. Oktober 1948 ist der Baron Karl in der Favoritenstraße von einem LKW der Besatzungsmächte angefahren worden und dabei ums Leben gekommen. Auf dem Wiener Zentralfriedhof ist er beigesetzt worden. Auf seinem letzten Weg sollen ihn rund 10.000 Menschen begleitet haben.
Den Diogenes von Favoriten hat man den Baron Karl genannt. Wahr ist aber auch, dass die Wiener immer ein bisserl zur Verklärung neigen. Obdachlosigkeit und Alkoholismus machen aus einem Menschen in der Regel keinen Weisen, sondern einen armen Teufel. Der Baron Karl ist vor allem eine Bezirkskoryphäe gewesen, weil ihn die Leute zu einer gemacht haben.
Einmal hat der Baron Karl gesagt, sein einziger Wunsch an das Schicksal sei: „I mechat amoe gaach82 in an Himmö einifliang.“ Das ist ihm sicher geglückt.
Übrigens hat man dem Baron Karl die Ehre angedeihen lassen, eine Straße nach ihm zu benennen. Nach dem Obdachlosenguru des vierten Bezirks haben sie eine Wohnstraße im zehnten Bezirk benannt.
Apropos zur Verklärung neigen: Also der Waldheim – ich sage Ihnen …