Wiener Wahn. Edwin Baumgartner

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Wiener Wahn - Edwin Baumgartner

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Aber überlegen Sie: Vom ersten Moment an, in dem er denken kann, kriegt der Ferdinand eine Erziehung, die darauf hinausläuft, dass er, und nur er ganz allein, entscheidet, was im Reich geschieht. Später wird man ihm erklärt haben, die Geheime Staatskonferenz habe die Zügel fest in der Hand. Und auf einmal ist der ohnedies entscheidungsschwache und ohnedies naive Ferdinand mit einer Situation konfrontiert, die er nicht befohlen hat, und die ihm sein allgegenwärtiger und allmächtiger Staatskanzler weder erklären kann, noch kann er ihm sagen, wie er sie in den Griff kriegt. „Ja, dürfen s denn des?“ ist sicher keine angemessen formulierte Reaktion, nur: So verblödet, wie sie immer dargestellt wird, scheint sie mir nicht.

      Aber vielleicht beschönige ich das, ich hab Ihnen ja gesagt: Ich mag den Ferdinand. Und zwar mag ich ihn, weil er ein wirklich gütiger Mensch gewesen ist und in seiner Güte durchaus besonnen. Darum bin ich überzeugt, dass die blutige Niederschlagung der nicht gedurften Revolution auf das Konto vom Metternich geht. Die Anwendung von tödlicher Gewalt passt nämlich nicht zum Ferdinand. Dazu werde ich Ihnen später noch was erzählen.

      Jetzt komm’ ich zuerst einmal dazu, wieso der Ferdinand „der Gütige“ genannt worden ist. Auf Wunsch seines Vaters Franz I. ist der Ferdinand am 28. September 1830 in Pressburg zum König von Ungarn gekrönt worden. Zu diesem Anlass haben ihm die ungarischen Stände ein Ehrengeschenk von 50.000 Dukaten überreicht. Eine Historikerin hat mir das einmal in Euro umgerechnet – rund 650.000 Euro wären das. Jedenfalls hat der Ferdinand das Geld nicht einfach unter den Menschen verteilt, sondern er hat mit dem einem Teil sehr umsichtig verarmte ungarische Gemeinden unterstützt und den anderen Teil hat er in die Pester Akademie fließen lassen. Ab da hat er den Beinamen „der Gütige“ gehabt.

      Natürlich steht überall, zu dieser Vorgehensweise habe ihm der gewiefte Metternich geraten, der habe gewusst, wie sich der Ferdinand bei den Ungarn beliebt macht. Mag sein. Andererseits – Sie wissen ja, dass der Ferdinand am 2. Dezember 1848 zugunsten seines Neffen Franz Joseph abgedankt hat. Mir gefallen die Worte, mit denen er das Kaisertum übergeben hat, weil sie völlig unpathetisch gewesen sind: „Gott segne dich, sei brav, es ist gern geschehen. Pfiat God50.“ Darauf habe ich aber gar nicht hinausgewollt, das ist mir nur gerade zur Abdankung eingefallen. Was ich eigentlich sagen hab’ wollen: Nach der Abdankung übernimmt der Ferdinand selbst, und zwar ohne Hilfestellung durch höchste Staatsbeamte, die Verwaltung seiner riesigen böhmischen Güter, die er vom Herzog von Reichstadt geerbt hat. Er macht sie zu Musterbetrieben und steigert die Erträge in schwindelerregende Höhen. Als sein kaiserlicher Neffe hingegen einen politischen und militärischen Fehlgriff nach dem anderen tut, spöttelt der Ferdinand: „Das hätt i aa no zsammbracht.“51 Und der soll „eine vollkommene Null, beinahe ein Idiot“ gewesen sein, wie Lord Palmerston angemerkt hat?

      Was freilich so gar nicht nach dem Ferdinand ausschaut, ist die Vertreibung der Tiroler Protestanten. 1837 haben 427 Frauen, Männer und Kinder das Zillertal verlassen müssen. Sie haben dem Protestantismus nicht abschwören wollen. Die Vertreibung ist gegen jedes Recht gewesen, weil Kaiser Joseph II. bereits im Jahr 1781 mit dem Toleranzpatent die freie Religionsausübung weitestgehend erlaubt hat. Aber einflussreiche katholische Kreise haben so lange gegen die Protestanten gehetzt, bis der Kaiser den Schlussstrich gezogen und die Ausweisung verfügt hat. Da hat der entscheidungsschwache Ferdinand also doch einmal eine Entscheidung getroffen, noch dazu eine, die so gar nicht zu seinem Denken passt? – Schauen Sie, da erkenne ich auch schon wieder die Handschrift vom Metternich, und zwar viel eher als bei Ferdinands Verwendung des Ehrengeschenks der ungarischen Stände. Die Verteilung des Ehrengeschenks passt so zum Wesen vom Ferdinand, wie die Vertreibung der Protestanten zu dem vom Metternich passt. Dem Metternich ist es dabei wahrscheinlich nicht einmal um die Religion gegangen, sondern um die Unterdrückung von Abweichlertum. Einmal ist es ein politisches gewesen und jetzt halt ein religiöses. Welcher Art das Abweichlertum gewesen ist, ist dem Metternich wurscht52 gewesen. Er hat weder das eine noch das andere zulassen wollen.

      Es gibt aber noch etwas, weswegen ich den Ferdinand mag: Er ist ein Gegner der Todesstrafe gewesen. Er hat in der gesamten Zeit seiner Regentschaft kein einziges Todesurteil unterzeichnet. Das ist für einen Habsburger-Kaiser einmalig. Nicht einmal dann hat er ein Todesurteil verlangt, als er beinahe selbst draufgegangen wäre. Das ist so gekommen: Am 9. August 1832 hat der pensionierte Hauptmann Franz Reindl in Baden bei Wien mit einer Pistole ein Attentat auf den Ferdinand verübt, der zu diesem Zeitpunkt noch Österreichischer Kronprinz, aber immerhin schon König von Ungarn gewesen ist. Es ist um eine Geldsumme gegangen, die der Ferdinand dem Reindl verweigert hat. Der Reindl ist ein Spieler gewesen und hat, um Schulden bezahlen zu können, vom Ferdinand, mir nichts dir nichts, 900 Gulden erbeten. Der Ferdinand hat ihm aber nur 100 zugestanden. Daraufhin hat sich der Reindl immer mehr in Rage gegen den Ferdinand hineingesteigert.

      Bei einem Besuch vom Ferdinand in Baden verfolgt der Reindl die Majestät und fängt plötzlich eine Schimpftirade an. Wie der phlegmatische Ferdinand nicht reagiert, zieht der Reindl ein Terzerol aus der Tasche, legt an und drückt ab. Der Thronfolger wird getroffen, bleibt aber stehen. Der Reindl zieht ein zweites Terzerol aus der Tasche und schießt sich in den Mund, aber die Kugel bleibt im Gaumen stecken, ohne viel Schaden anzurichten. Der Reindl hat nämlich viel zu wenig Pulver für die Ladungen verwendet. Deshalb ist es auch beim Ferdinand bei einem blauen Fleck53 geblieben.

      Nicht einmal diesen Reindl hat der Ferdinand hinrichten lassen. Der Reindl ist zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Natürlich hat er jetzt seine Familie nicht mehr unterstützen können. Und jetzt raten Sie, wer das übernommen hat. – Der Ferdinand.

      Jetzt komm’ ich zurück auf die Niederschlagung der Revolution von 1848. Natürlich ist eine Revolution nicht zu vergleichen mit einem Attentat. Bei der Revolution ist es um die Monarchie gegangen. Sie dürfen nicht vergessen: Den Habsburgern ist im Genick gesessen, dass eine Familienangehörige unter der Guillotine der französischen Revolutionäre ihr Leben gelassen hat. Die Marie Antoinette ist die Großtante vom Ferdinand gewesen. Dennoch kommt mir vor, dass der Ferdinand Gewalt verabscheut hat, die sich gegen das Leben richtet. Dem Metternich war das indessen wurscht. Aber vielleicht will ich das auch nur so sehen.

      Und jetzt bin ich richtig froh, dass die Küche unseren Kaiserschmarrn offenbar vergessen hat, weil ich hab jetzt Appetit auf geröstete Knödel, Sie auch? Was weiß ich, woher das kommt.

      Ah ja, übrigens: Das Volk hat nicht verstanden, dass ein Herrscher so milde sein kann und hat aus „Ferdinand der Gütige“ „Gütinand der Fertige54“ gemacht. Aber man hat ihn auch den „Nandl55“ genannt. Ich weiß nicht, ob das nur im Spott gewesen ist. Für mich schwingt da eher etwas Liebevolles mit, so, wie wenn man über den Onkel spricht, der ein bisserl wuki56 ist, den man aber eigentlich recht gern hat.

      Apropos Beliebtheit: Also der Zilk – ich sage Ihnen ...

      DER ZILK

      Jetzt muss ich Ihnen was erzählen, und zwar über den Zilk.

      Der Helmut Zilk57 ist zehn Jahre lang der Kaiser von Wien gewesen. Offiziell ist er zwar nur Bürgermeister gewesen, aber die Wiener haben das anders empfunden, für die ist er ihr Stadtmonarch gewesen. Die Wiener verehren ja ihren alten Kaiser, den Franz Joseph, insgeheim immer noch, traditionshalber, sie geben das von Generation zu Generation weiter, vielleicht können die Wiener ihre Liebe zum Kaiser ja auch richtig vererben. Jedenfalls haben die Wiener aus diesem Grund einen Narren gefressen gehabt am Zilk, und obwohl sie seinen Nachfolger, den Michael Häupl, auch sehr gemocht haben und er wirklich populär gewesen ist, haben sie ihn doch nicht so, ja: geliebt, wie sie den Zilk geliebt haben.

      Der Zilk ist ja auch ein richtiges Original gewesen, ein Original und ein Stadtmonarch zugleich. Das eine bedingt das andere. Niemals würde ein Wiener jemanden als Stadtmonarchen akzeptieren, der kein Original ist. Ein Wiener durchschaut das sofort. Es hätte ja auch damals nicht einfach

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