Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug
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Was nicht als Cultural Studies, sondern unter dem Namen »materielle Kultur« auftritt, ist ein breites und heterogenes Spektrum von Forschungsrichtungen. Es reicht von V. Gordon Childe, der als »notable exception« unter den westlichen Archäologen Kenntnis hatte von der »explicitly Marxist archaeology developed in the Soviet Union in the 1920s and 1930s« (McGuire 2008, 77) und selbst in den Bahnen des objektivistischen Marxismus jener Epoche dachte, bis hin zu Studien über Werbungs- und Warenkonsum, deren affirmativer Ansatz sie als Beiträge zur Markforschung durchgehen lassen könnte. Zwischen diesen Extremen finden sich entnannte und ihres kritischen Impulses beraubte Ausläufer des Marxismus, die mit Konzepten der Alltagsforschung, des Strukturalismus und anderer momentan einflussreicher Strömungen verschmolzen und dem Mainstream einverleibt worden sind.65
Nimmt man das Kriterium der jungen Marx und Engels im engsten Wortsinn, dem zufolge unsere Vorfahren aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld die Schwelle überschritten hätten, sobald sie anfingen, »ihre Lebensmittel zu produzieren«, ist es weniger als die halbe Wahrheit und muss präzisiert werden. Nicht die Lebensmittelproduktion bezeichnet den anthropogenetischen Ausgangspunkt. »Es ist innerhalb der anthropologischen Forschung unbezweifelt: Das zentrale Merkmal, das den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist seine Fähigkeit zur systematischen Werkzeugherstellung« (Holzkamp 1973, Schriften IV, 108). Animal laborans, homo faber, tool making animal – in solchen und ähnlichen Formeln hatte sich diese Einsicht schon lange vor Marx niedergeschlagen. Und doch waltet in den philosophischen Selbstauslegungen seit dem klassischen Altertum ein merkwürdiger Bann über der bei Hesiod noch hochgehaltenen anthropologischen Fundamentalbedingung produktiver Arbeit.66 Mitsamt ihrem Material, dem Naturstoff, und den namenlosen Arbeitenden fand sie sich in die niedrigen Regionen verwiesen oder mit Schweigen übergangen. Geschichte war die der Könige und anderer Großer Männer und Kultur die des Geistes und seiner Künste. Hier haken Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters von 1935 ein:
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon –
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
[…]
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Die Welt der Bauleute und des Kochs, des Wohnens und Essens und aller anderen, aber auch der einfachen Soldaten und ihrer Familien, ihre dingliche Ausstattung und die Weisen des Gebrauchs, den sie davon machten, die konkrete Wechselwirkung von Produktionsweise und Lebensweise – wird das und vieles mehr von dieser Art unter der Rubrik »materielle Kultur« verhandelt? Wie wird es verhandelt? Warum unter dieser Denomination? Was ist mit der ›nicht-materiellen Kultur‹, die der Name der ›materiellen‹ als sein sinngebendes Gegenteil stillschweigend mit sich führt und ohne die er seine differentia specifica verlöre? Zuerst vergewissern wir uns der Bedeutung unserer beiden Titelkomponenten, des Materiellen und des Kulturellen.
2. Kultur und Kulturen
Das lateinische Wort cultura leitet sich ebenso wie der cultus von colere her. Im gestaffelten Wortsinn von colere zeigt sich eine genetische Spur: der Primärsinn ist »bebauen« und »bestellen« (des Feldes); am bebauten Boden hängt die Siedlung und damit das Be/Wohnen; hieran das Pflegen und dessen Hochschätzung, die in der Verehrung gipfelt. »Kultur« leitet sich von der Agrikultur her. In der Tat basiert seit der neolithischen Revolution alle Kultur auf dieser. Mit ihrem Mehrprodukt erzeugt die Landwirtschaft ihren Gegensatz in Gestalt des Tempels und der Stadt, wo infrastrukturelle Maßnahmen geplant und geleitet und mit den abstrakteren Fähigkeiten und der Schrift die ideologischen Sanktionierungsformen der bestehenden Verhältnisse ausgebildet und gepflegt werden. Nicht zuletzt wird der militärische Zwangsapparat dort seinen Sitz nehmen. Die Stadt wird zum Ort des Staates. In der Stadt als dem Ort des Gewerbes und des Handels, des Kultes und der Künste, der Verwaltung und der Rechtsprechung bildet sich obendrein das Archiv des gesammelten und verallgemeinerten Wissens.
Die semantische Schichtung, die in den modernen westlichen Sprachen mit dem Wort ›Kultur‹ assoziiert ist, trägt noch immer die Spur dieses genetischen Zusammenhangs. Das semantische Feld hebt mit dem landwirtschaftlich-produktiven Sinn an, wird dann auf die cultura animi (Plutarch) übertragen und gipfelt in der geistigen Bildung. Das Wort bleibt, doch was es – zunächst metaphorisch, dann terminologisch – meint, ›Kultur‹, ist seit dem Altertum seinem Ursprung entfremdet. Der Sinn des lateinischen rusticus reicht von »ländlich« über »schlicht« und »bäurisch« bis zu »ungebildet«, und der Sinn der rusticitas von »Einfachheit« bis »Blödigkeit« (Heinischen 1954). Vom Standpunkt der höheren Kultur erscheint der ursprüngliche Cultivator par excellence, der Bauer, also nurmehr als der ›Unkultivierte‹. Darin drückt sich die Herrschaft der Stadt über das Land, der Kopfarbeit über die Handarbeit aus. Im Innern der Stadt und bald im ganzen Land repliziert sich dieses Verhältnis als Herrschaft über die manufakturelle Arbeit. Ihren geistigen Ausdruck schafft sich diese immer komplexer ausdifferenzierte Herrschaft im logozentrischen Weltbild. Das Materielle wird zu etwas Formlosem aber Formbaren degradiert. Die Form kommt von oben. Sie ist das Höhere, in letzter Instanz Göttliche.
In diese Höhenwelt geistiger Kultur bricht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit rasch anschwellender Macht der marxistische Diskurs ein, dessen intellektueller Schärfe der Aufstieg der internationalen Arbeiterbewegung eine mitreißende Wucht verleiht. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Die Tragödie des Staatssozialismus im 20. Jahrhundert beraubte den ›offiziellen‹ Marxismus nach dessen ›konstantinischer Wende‹ zunehmend seiner intellektuellen Substanz und kostete ihn seine Glaubwürdigkeit. Der Zusammenbruch der auf ihn sich berufenden europäischen Staaten bereitete ihm schließlich ein Ende. Das Denken der Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse ist seither wissenschaftlich auf sich gestellt.
Diese Geschichte muss mitbedacht werden, um die im Ganzen diffus wirkenden und manchmal auf halber Strecke verharrenden Forschungsansätze und theoretischen Konzepte zu verstehen, die sich unterm terminologischen Dach der ›materiellen Kultur‹ treffen. Den spätbürgerlichen Ausläufern der einst so stolzen Höhenwelt geistiger Kultur treten diese unter der Fahne der ›Materiellen Kultur‹ oft weniger entgegen als zur Seite. Der residuale Protest gegen das Diktat der geistigen Kultur, das der Begriff des Materiellen transportiert, lässt sich in Anlehnung an die grobe Formel übersetzen, die Brecht dem Gangsterboss Mac the Knife in den Mund gelegt hat: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«. Sie lautet dann: »Erst kommt die materielle, dann die spirituelle Kultur.« »Fressen« im Brecht-Zitat meint natürlich nicht nur das Essen, sondern ist eine Allegorie für die Aneignung des Ensembles der lebensnotwendigen Gegenstände der Bewohnung, des Gebrauchs und des Verbrauchs. Herbert Marcuse versteht unter materieller Kultur den Bereich der »Lebensnotwendigkeiten, […] Bequemlichkeit und Luxus« (Triebstruktur, 90).67 Von Produktion ist so weit noch nicht die Rede. Der Standpunkt, dem die konsumtiven Güter die materielle Kultur verkörpern, kann nicht der Standpunkt der Gesellschaft sein, die von der Produktion lebt, sondern allenfalls der eines Individuums, für dessen begrenzten Horizont die Aneignung jener Elemente des ›materiellen‹ Reichtums zum Zwecke des Konsums genügt.
Die Produktion drängt sich auf, richtet man den Blick auf die Gemeinschaft. Von ihr wird nichts bewohnt, gebraucht oder verbraucht, was sie nicht zuvor der Natur abgewonnen, menschlichen