Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

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Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug

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und entspricht der Vorliebe, indes nicht der gewohnheitsmäßig geronnenen, sondern der Vorliebe im flüssigen Zustand. Diese hat das Angestrebte noch vor sich. Sie ist ebenso verwandt mit der Selbstliebe wie unterschieden von ihr. Denn auch das Selbst ist für sie noch nicht heraus. Sie west in dem von Ernst Bloch in die berühmte Formel gegossenen Sachverhalt: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« (1963, 11) Darin beruht die Nähe des Kulturellen zu dem, was bei Thomas Metscher noch einmal emphatisch als »menschliche Selbstproduktion« (2010, 49) gefasst ist und was, auf die Individuen bezogen, »Selbstverwirklichung« genannt zu werden pflegt. Und wie bei dieser ist die Kreuzung des Wer-Seins mit dem Wir-Sein der wunde Punkt. Denn das Selbst verwirklicht sich nur, indem es aus sich herausgeht. Anders findet es keine Wirklichkeit. Der Selbstzweck treibt über den aufs eigene Selbst beschränkten Zweck hinaus.43 Er muss nach Handlungsfähigkeit streben, und diese ist nur sozial zu verwirklichen. Antonio Gramsci erkennt daher in dem Verlangen, »Führer seiner selbst zu sein«, die keimförmige Zielstrebigkeit hin zu geschichtlicher Handlungsfähigkeit: Die spontan »bizarr zusammengesetzte« Mentalität erlangt die mögliche Kohärenz nur im Einklang mit anderen, also tendenziell in dem, was ihm als hegemoniefähiger Entwurf vorschwebt, in dem die Selbst- und Weltverhältnisse einer großen Anzahl von Menschen in Übereinstimmung gebracht sind.44 Das ›Hegemoniegesetz‹ des Politischen und das ›Sinngesetz‹ des Kulturellen greifen an dieser Nahtstelle ineinander.

      Während Bourdieu mit dem Begriff der distinction die bürgerliche Geltungskonkurrenz analysiert, in der die Individuen sich selbst, die Sache instrumentalisierend, von anderen unterscheiden, interessieren wir uns dafür, wie sie in der Sache unterscheiden und womöglich die Anderen einbeziehen. Das mag wie ein feiner Unterschied aussehen und ist doch einer ums Ganze. Denn die Sache selbst, das sind die gegenständlich tätigen Menschen in ihrer geschichtlichen Selbstwerdung. Aus dieser Bewandtnis ist ein Begriff der kulturellen Praxis zu entwickeln, der geeignet ist, ihr ein Licht aufzustecken.

      Von der Kultur das Kulturelle als ihr Vorgängiges zu unterscheiden, macht die ontisch-ontologische Differenz auf diesem Felde aus. Auf die Quelle zurückzugehen, aus der die Kultur entspringt, läuft nun freilich nicht auf eine retrograde Utopie jenes Typus hinaus, den Marx am Beispiel der Historischen Rechtsschule als das absurde Rezept verlacht hat, »dem Schiffer [anzumuten], nicht auf dem Strome, sondern auf seiner Quelle zu fahren«.45 Unser Rückgang auf den Quellpunkt der kulturellen Unterscheidung nimmt Anlauf zu einer kritischen Theorie des Kulturellen, indem es auf dessen konstituierende Macht im Verhältnis zur konstituierten Kultur abhebt und dem im Motto zu diesem Kapitel zitierten Streben des Peter Weiss nach einer »Kultur (Kunst), die uns ein Mittel sei, uns selbst gegenüber der Politik zu verwirklichen«, einen theoretischen Ausdruck gibt. Denn das Resultat des Übergangs von der kulturellen Unterscheidung zur Kultur, deren in vielen Schritten vollzogenem Gründungsprozess, ist eine sanktionierte Ordnung wie sie als »Politik« in der Notiz von Weiss auftaucht. Für sie gilt, was Freud von jeder Ordnung sagt: Sie »ist eine Art Wiederholungszwang, die durch einmalige Einrichtung entscheidet, wann, wo und wie etwas getan werden soll, sodass man in jedem gleichen Falle Zögern und Schwanken erspart« (Unbehagen, 224). Wie die elementaren Überlebensbedingungen schränkt auch sie die Wahlmöglichkeiten ein.46 Gegen sie bleibt Kants ethisches Kriterium virulent, dass sie die Form der Allgemeinheit anstreben muss, und Adornos Einspruch, dass diese Allgemeinheit, solange sie »unversöhnt ist mit dem Besonderen« (GS 8, 128), das Kulturelle an ihr erstickt. Kritische Kulturtheorie, die von der kulturellen Unterscheidung ausgeht, ist daher gehalten, eine Unterscheidung in Bezug auf das Machen von Unterschieden zu treffen. Ihr Begriff der kulturellen Unterscheidung wird auch diese nicht unkritisch aufnehmen. Dennoch, wissend um den Widerspruch, sucht sie die Kriterien, nach denen sie unterscheidet, immanent zu entwickeln. Sie setzt keine ›Werte‹ und dergleichen ideologische Größen voraus, um sie ans Material heranzutragen, sondern hellt als Manöverkritik des Daseins die von diesem vorgenommenen Wertungen auf.47 Dialektisch ist sie, indem sie das Gewordene im Flusse seiner Bewegung fasst und aus seinen inneren Gegensätzen auf die Tendenz seines Werdens schließt. Das macht sie zur Geburtshelferin emanzipatorischer Praxis.

      Stuart Hall, der die Kultur als »das Gebiet der Umwege, des Indirekten«, ja als Gründung des Imaginären48 ansieht, hält Distanz zum umweglos direkten, »sehr explosiven, keine Grenzen kennenden Wesen der Lust«;49 zumindest »als politische Kategorie ist Lust sehr irreführend« (2008, 485).50 Das Lustprinzip kann jeden Antagonismus durchqueren, kann alle, die es ins Visier nimmt, zu Objekten des Begehrens machen. Daher sieht Hall es zur Desartikulation der Politik tendieren, die von Gegensätzen lebt. Im Konsum von Produkten der Kulturindustrie mit ihrer oft »komplizierten Kombination aus Warenform und Erfahrungsrelevantem« bringt es einen dazu, mit letzterem die Warencharaktere zu schlucken. So muss zum Beispiel »die Trennlinie […] innerhalb der Popkultur51 selbst liegen«, und »um jene Unterscheidungen zu erkennen, die tatsächlich einen Unterschied machen, die Unterschiede wirklicher Erfahrungen sind, Unterschiede gelebter Geschichte«, muss man sich auf dieses Feld einlassen (486).

      Wenn Lust und Genuss das gesellschaftlich-politisch Trennende hinter einem Gemeinsamen verschwinden lassen können, so ist erst recht die kulturelle Unterscheidung, deren Wurzeln keine ganz anderen sind, auf allen Seiten der gesellschaftlichen Antagonismen anzutreffen. Obwohl sie im anthropogenetischen und dann menschheitsgeschichtlichen Sinn weitertreibend wirkt, kann sie im Einzelfall ins Privat-Hedonistische oder auch Regressive gehen. Als Universalie menschlichen Daseins vermag sie alle Formen anzunehmen, doch immer entspringt ihr Ja der Selbstbejahung der Subjekte. Alle praktizieren sie ständig und auf ihre je eigene, durch Lebensumstände und -geschichte bedingte Weise, die Unterdrücker wie die Unterdrückten. Selbst »Kaufentscheidung ist (wenngleich oft nur marginal) immer auch kulturelle Unterscheidung« (KdW, 275).52 Man muss das Denken des Kulturellen zunächst weghalten von moralischen Wertungen und sozialer oder politischer Parteilichkeit. Gut für mich selbst heißt nicht ethisch gut. Die Ethik erweist sich im Verhältnis zum Anderen, wie Aristoteles, der sie als Teil der Politik begreift, es auf den Punkt gebracht hat.

      Die Resultate der kulturellen Unterscheidung fixieren sich in Gewohnheiten und Institutionen. Dies machen die verschiedenen Ebenen und Formen antagonistischer Kommunikation53 sich zu Nutze. Das massenhaft Vorgezogene wird Legitimationsstoff und Konkurrenzmittel zugleich. In der Epoche der ästhetischen Gebrauchswert-Monopole in Gestalt der Markenartikel (KdW, 231ff) wird das Kultivieren konkurrierender Unterschiede zur Existenzbedingung fürs Kapital und ist »im Grunde nichts anderes als ein Aspekt des modernen Konsumismus« (Hall 2008, 486). In der resultierenden Kultur überlagern und durchdringen sich die Aktionen all dieser Mächte, Instanzen und Akteure. Kurz, nicht alles ist kulturell an der ›Kultur‹, diesem opaken, vielgesichtigen Gegenstand von Diskursen und Politiken. Alle Mächte mischen in ihr mit, nicht zuletzt die ökonomischen, politischen und ideologischen. »›Herrschende Kultur‹ mag kulturelle Bedeutung im hier definierten Sinn für eine herrschende Klasse haben, ideologische jedoch für die beherrschten Klassen oder Völker. Die kulturellen Blumen werden ständig von den ideologischen Mächten gepflückt und als ›unverwelkbare‹ Kunstblumen von oben nach unten zurückgereicht, eingebaut in die vertikale Struktur des Ideologischen. Umgekehrt können auch ideologische Phänomene von den Volksmassen ›profaniert‹, angeeignet und in ihren eigenen Kultur- und Identitätsprozessen assimiliert werden. Wie in solchen Fällen von kulturellen Effekten von Ideologischem gesprochen werden kann, so von ideologischen Effekten von Kulturellem, wenn dieses aufgrund seiner Attraktivität – sei es für die Massen, sei es für die Ideologen selbst – in eine ideologische Macht hineinwirkt und dort Veränderungen bewirkt. In der kapitalistischen Warenproduktion kompliziert eine dritte Instanz die Struktur des Alltagsbewusstseins: die Warenästhetik ruft kulturelle Effekte hervor, wenn sie das tätige Ausfüllen ihrer imaginären Räume um die Waren durch Konsumenten induziert. Andererseits fungiert sie als ideologieförmige Macht, die Glück und Befriedigung als oberste Attraktionen setzt und alle möglichen anderen Attraktionen und Kohäsivkräfte, auch ideologische, dem unterordnet und mit dem Erwerb und Konsum bestimmter Waren verknüpft.« (ETI, 53)

      Den genetischen Prototyp ›herrschender Klasse‹ haben Marx

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