Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

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Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug

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von Kultur zu verstehen« (Lindner 2000, 20). Doch ›Kultur‹ als Erkenntnisobjekt durch »Ausdruck von Kultur« zu ersetzen, statt die Frage, was überhaupt kulturell ist, zu stellen (und sich selbst dieser Frage), löst das Problem nicht, sondern verschachtelt es nur. Es setzt, wörtlich genommen, die Kultur als unsichtbaren Gott, der sich in Phänomenen der Lebensweise manifestiert, wie der alttestamentarische Gott im brennenden Dornbusch. Dieser Ausdrucksgedanke ist nicht draußen in der Welt, wo sich, wie in einem Mehrfrontenkrieg, die Kampfhandlungen überkreuzen. Wer sich da halb wegduckt, halb anpasst und aus Beutegütern oder auch Trümmern ein Leben zusammenbastelt, drückt dadurch kein autonomes Kulturwesen aus, sondern seine konkrete Lebensweise ist Resultante heterogener Kräfte, unter deren Vektoren sein eigenes Machen von Unterschieden als eine Kraft unter Kräften eingeht. Was eine derart veränderte Auffassung des Erkenntnisgegenstands ›Kultur‹ für die Begrifflichkeit des Forschungsansatzes bedeutet, soll uns im zweiten Kapitel (v. a. in den Abschnitten 2 und 4) beschäftigen.

      Begnügt sich Kulturforschung mit einer Ethnographie von Lebensweise, hat sie zwar ein handfest-empirisch Gegebenes als Forschungsgegenstand, das sich ohne viel weitere Vorklärung oder gar theoretische Grundlegung beobachten und beschreiben zu lassen scheint, doch fällt sie dann in ihren Gegenstand, dessen inneres Getriebe alles andere als unschuldig ist. Den Gegenton scheint ein Dokument des Deutschen Bundestags anschlagen zu wollen: »Die Ergebnisse kultureller Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, mit Natur und Technik, mit Geschichte und Zukunft tragen utopische und kritische Gehalte, sie sind niemals bloßes Abbild von Realität.« (KuD 43) Dieser Satz, in dem man einen fernen Widerhall von Gedanken Ernst Blochs, Theodor W. Adornos oder Herbert Marcuses zu spüren meint, bringt allerdings weniger das den weiteren Bericht leitende Kulturverständnis als ein Zugeständnis an kritische Positionen zum Ausdruck. Denn der Bericht schnürt wie irgendein anderes politisches Kompromisspapier viele inkompatible Denklinien zusammen. Alle sollen in ihm repräsentiert sein. So findet auch die »anthropologische« Kulturdefinition der UNESCO (1982) Eingang, »in der die Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen wird, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und die über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst«. Das ist weder utopisch noch kritisch, sondern eine deskriptiv die Faktizität verdoppelnde »chaotische Vorstellung des Ganzen« (Marx, siehe weiter unten). Dann wieder heißt es: »Kultur […] benötigt Freiräume für das Unverfügbare, das weder ökonomisch noch politisch Nutzbare« (43). Das steht im Widerspruch zu tatsächlich stattfindenden Verfügungen und Nutzungen. Der von der Sache geforderte kritische Einspruch gegen die verfügenden Mächte des Marktes und der Politik verschwindet jedoch unterm mythischen Unding eines wirkungslos Wirkenden, über das niemand verfüge. Zugleich heißt es, »Kulturwirtschaft ist eine bedeutende Wachstumsbranche«,13 und »Kunst und Kultur sind keine beliebigen Waren.« Abgesehen davon, dass nicht Kunst und Kultur, sondern Kunstwerke und Kulturveranstaltungen als Waren fungieren, wird die Eigenart dieser Waren nicht erläutert. Stattdessen sollen auch solche »kulturellen Ausdrucks- und Präsentationsformen, die sich nicht ›verkaufen‹«, gefördert werden. Aber ist alles, was auf kein Interesse stößt, deshalb schon förderungswürdig? Zwischen Begriffsnot und Kompromisszwang reiht der Bericht »ohne Inventarvorbehalt«, wie Gramsci sagen würde (H. 11, §12), nämlich ohne kritische Sichtung ihrer Herkunft, verschiedene Diskurs-Versatzstücke aneinander. Es ist Zeit, einen Blick auf die Wandlungen der Kulturdiskurse im Zuge des Übergangs zum Hightech-Kapitalismus zu werfen.

      Kulturwissenschaften, die sich die kritische Anstrengung sparen, die Spuren sozialer Herrschaft und Subalternität zu lesen, die Wirkung der ideologischen Mächte und der Warenästhetik von widerständigen Ansätzen der kulturellen Selbstbestimmung zu unterscheiden, erliegen ihrem Gegenstand, der vorgefundenen ›Kultur‹ ohne Begriff derselben, weil sie die »Trennlinien« in deren Innerem nicht zu ihrem Ansatzpunkt machen. Die Kapitulation führt für gewöhnlich zur Identifikation. So erklärt sich zum Teil die im Übergang vom Fordismus zum Hightech-Kapitalismus zum Zuge gekommene »bewusste Diskursstrategie«, »durch kulturelle Argumentationen das Soziale im gesellschaftlichen Diskurs auszublenden, die Rede über Geschichte, Gesellschaft und Politik nur mehr in terms of culture stattfinden zu lassen und […] die ›Kultur‹ gegen ›Gesellschaft‹ auszuspielen« (Kaschuba 1998, 94). Dem kamen die Umbrüche in der vom Einsatz des Computers umgepflügten Arbeitswelt entgegen: das Aufbrechen der Solidarsysteme und -organisationen; die mit neuen Karrierechancen einhergehende, von Massenarbeitslosigkeit umdrohte Prekarisierung der zur Flexibilität angehaltenen Subjekte; Verwandlung vieler Lebensläufe nach dem Flickenteppichmuster (»patchwork«); die damit verbundene sogenannte »Individualisierung« (Beck), der eine Auffächerung in Gruppen-›Lebensstile‹ entsprach, »die Klassenverhältnisse camouflieren und diese im Wege kulturalisierter Ökonomien instrumentalisieren« (Musner 2008, 494).14 In der fraglichen Epoche sind die Cultural Studies, die »ihren Aufstieg zur etablierten Disziplin v. a. in den USA nicht zuletzt ihrer post-strukturalistischen Abkehr vom Marxismus verdankten« (Rehmann 2008, 139), »von einem Projekt, das angetreten ist, die Kultur von den Rändern her im Namen der Marginalisierten und Subalternen einzufordern, zu einer akademischen Disziplin geworden, die in erster Linie das steigende Bedürfnis nach Orientierung in einer unübersichtlich und schnelllebig gewordenen Konsumgesellschaft befriedigt« (Barfuss u. a. 2008, 505). Doch die Triebkraft dieser und ähnlicher Verwandlungen reduziert sich nicht aufs konsumistische Orientierungsbedürfnis. Sie entspringt den Wandlungen der Wirtschaft und der dieser dienenden Wirtschaftspolitik und gründet im Spannungsverhältnis zwischen der Lebensweise und der durch Computerisierung und zunehmender Transnationalisierung bestimmten Produktionsweise. Was sich in dieser Epoche tiefgreifend veränderte, ist das Verhältnis von Kapitalismus und Kultur.

      1978 verzeichnete der Feuilleton-Chef der FAZ, dass sich seit Ende der 60er Jahre »unser Kulturbegriff grundlegend verändert« hatte: »Zählten in den fünfziger Jahren vielen Bürgern die Jazz-Lokale noch zur Un-Kultur, so ist heute auch der Pop-Rock fester Bestandteil der Kulturszene […]. Es wurde in den letzten Jahren sogar zu einem Hauptindiz für die Kultur einer Stadt, wie sie das Verhältnis von Einwohnern und Warenangebot ordnete, ob sie die Fußgängerzone so anlegte, dass sie den Charakter der Innenstadt als eines Großmarkts unterstützte, oder ob sie sie zum Platz neuer Urbanität, des Schlenderns, Flanierens und Verharrens machte, der den ›Verbraucher‹ ohne schlechtes Gewissen und Armutsgefühl dann entkommen lässt, wenn er nichts gekauft hat.« (Rühle 1978) Die Integration von Elementen der Gegenkultur, die er »Anti-Kultur« nennt,15 würdigte Rühle als höchst positiv. Aufmerksam registrierte er das »Verlangen nach einer Jugendkultur, die nicht mehr erzieherische Vorstufe zu dem war, was sich als Kultur der Erwachsenen darbot«. Auch die Industrie hatte die ›Kultur‹ für sich entdeckt. »Das Management großer Industriebetriebe weiß längst, wie wichtig das kulturelle Angebot einer Stadt ist, um neue Kräfte von draußen zu gewinnen.«

      Zu Beginn des Jahrzehnts hatte der Deutsche Gewerkschafts-Bund die Formel ausgegeben »Kultur ist, wie der Mensch lebt und arbeitet«. Sozio-Kultur wurde zum Politikfeld. SPD-Kulturpolitiker wie Hilmar Hoffmann und Hermann Glaser »bündelten alles und nannten diese Impulse […] ›Alternative Kulturpolitik‹« (Rühle 1978). Das der DKP nahestehende frankfurter Institut für marxistische Studien und Forschungen (IMSF) initiierte einen über ihre Parteigrenzen ausstrahlenden Diskussionszusammenhang zu Fragen der Kultur der Arbeiterklasse und zu linker Kulturpolitik.16 1980 gründete sich die Berliner Volksuniversität (Volksuni) im Zeichen einer gramscianischen Politik des Kulturellen, und 1981 trat Peter Glotz sein Amt als Bundesgeschäftsführer der SPD unter Willy Brandt an und entfaltete ebenfalls unter Rückgriff auf Gramsci Elemente einer Politik »kultureller Hegemonie«. Doch da war die »Trendwende« hin zum Neoliberalismus mit konservativem Gesicht schon in vollem Gange.

      Gegen Ende des Jahrzehnts gab Hans Schwab-Felisch (1987) zu Protokoll, der »Jahrhundertvorgang« des »großen Abräumens der Industrie unter dem Druck des Übergangs ins elektronische Zeitalter« sei in seiner »Dramatik bisher kaum ins Bewusstsein der Republik gedrungen«.

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