Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

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Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug

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dieser Sackgasse verspricht ein anderes von Wittgensteins Bildern uns zur Hand zu gehen, nämlich das von der »Familienähnlichkeit« (W 5, 37 u. 41). Auf dem Rückzug aus der Wesensmetaphysik räumt es Allgemeinbegriffen einen pragmatischen Status ein. Schauen wir uns das Bild näher an: Keine zwei Individuen einer Großfamilie sind einander vollkommen gleich, doch die einzelnen Züge streuen sich in immer neuen Kombinationen. Selbst zwei Individuen, die völlig unterschiedliche Züge haben, können jeweils einen Zug mit einem dritten Individuum gemein haben, das mit jedem der beiden zumindest einen seiner charakteristischen Züge teilt. Über diese dritte Person vermittelt sich dann die Familienzugehörigkeit der beiden ersten. Wittgenstein legt ein zweites Bild darüber, das Bild vom Spinnen eines Fadens, wobei wir »Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen.« (Philos. Untersuchungen, §67, W 1, 278) Freilich lassen sich über solche vermittelnden Teilgemeinschaften die Grenzen des »Fadens« wie auch der »Familie« immer weiter hinausschieben, bis tendenziell Alles dazugehört. Das ist jedoch nur eine andere Weise zu sagen, dass keines mehr zu etwas Bestimmtem gehört.

      Oder trägt der Griff, der ein Allerlei als ›Kultur‹ zusammenfasst, die Handschrift des Staates oder einer der an ihn angelehnten Verwaltungen? »Die Zusammenfassung von so viel Ungleichnamigem wie Philosophie und Religion, Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten, schließlich dem objektiven Geist eines Zeitalters unter dem einzigen Wort Kultur verrät vorweg den administrativen Blick, der all das, von oben her, sammelt, einteilt, abwägt, organisiert.« So sieht es Adorno in einem Essay von 1960, der zur Orientierung von Kulturredakteuren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gedacht war. Zugleich sieht er ›Kultur‹, »gerade nach deutschen Begriffen, der Verwaltung entgegengesetzt. Sie möchte das Höhere und Reinere sein, das, was nicht angetastet, nicht nach irgendwelchen taktischen oder technischen Erwägungen zurechtgestutzt ward.« Doch sieht er nur allzu deutlich, »wie sehr die hundertmal zu Recht kritisierte Kategorie der Welt wie sie ist, der verwalteten, verschworen und angemessen ist. Gleichwohl wird kein einigermaßen Empfindlicher das Unbehagen an der Kultur als einer verwalteten los.« (GS 8, 121f) – Wir sind gut beraten, wenn wir uns darauf einstellen, dass das kulturelle Feld nicht nur von Zweideutigkeiten dieser Art, sondern auch von einem vielfältigen Kräftemessen durchzogen, kurz: »ein Feld wuchernder Antagonismen« (Hall, AS 3, 151) ist. Machen wir uns auf ein Tauziehen gefasst, in dem alles verloren, nie alles gewonnen werden kann.

      Wir kommen auf diese unaufhebbare Ambivalenz zurück. Zuerst wenden wir uns der Frage der philosophischen Reflexion zu. Denn die philosophische Anthropologie reduziert Kultur keineswegs auf Lebensweise, zumal dann nicht, wenn sie das »Passwort Marx« entschlüsselt hat.

      Von den frühen Cultural Studies8 bekennt Stuart Hall (2008b), fehlende Deutschkenntnisse im Verein mit damals noch fehlenden Übersetzungen hätten den Zugang zumal zur deutschsprachigen kritisch-marxistischen Philosophie blockiert. So kam es, dass dieser neu aufbrechende Zweig der Kulturforschung sich als »Feld ohne Philosophie konstituierte«. Für Hall ist es »der verfehlte Moment in der Geschichte« und eine »wirkliche Schwäche«, die allerdings den Vorteil hatte, der Forschergruppe theoretische Spekulationen zu ersparen.

      Ganz anders der Tenor in einem relativ willkürlich herangezogenen, jedoch symptomatischen kulturwissenschaftlichen Textbuch von 2010. Das Vorwort erklärt, warum man die Philosophie seit dem »Cultural turn« vergessen könne. Von der ethnologischen, im Englischen und Französischen als anthropologisch bezeichneten Kulturwissenschaft heißt es, dass sie sich »dezidiert von einer Tradition der Ideen- oder Kulturgeschichte verabschiedet […]. Die wissenschaftliche Grundlage bilden weder Philosophie noch Philologie, sondern Soziologie und Anthropologie.« (Kimmich u. a. 2010, 9) Wir erfahren, dass die US-amerikanischen Ethnologen Alfred L. Kroeber und Clyde Kluckhohn bereits in den frühen 1950er Jahren philosophische Kommentare oder Reflexionen zur menschlichen Geschichte verbannt hätten.9 Stattdessen solle man sich darauf beschränken, »Sitten« und »Gebräuche« zu erforschen, »die variabel, partikular, plural und empirisch« sind; an die Phänomene solle »historisch, pluralistisch, relativistisch« herangegangen werden, »gleichwohl bestrebt, die Totalität der bekannten Welt von Brauchtum [custom] und Ideologie abzudecken« (146f). Man habe deshalb »Ansätze, die einer eher idealistischen Tradition […] angehören, […] weitgehend unberücksichtigt« gelassen (Kimmich u. a., 10). Nicht gesagt wird, dass erst recht die geschichtsmaterialistische Tradition unberücksichtigt bleibt. Antonio Gramsci oder Stuart Hall, ohne deren Gedanken der »Cultural turn« eine taube Nuss geblieben wäre, werden nicht einmal erwähnt, Michail Bachtin oder Raymond Williams zwar genannt, doch bei der Textauswahl nicht berücksichtigt.

      Der Rückzug aufs positiv Vorhandene, den auch Willis mit seinem »anthropologisch als ›Lebensweise‹« gefassten Kulturbegriff angetreten hat, entbindet eine Dialektik der verwandelten Wiederkehr des Verdrängten. Herbert Marcuse hat sie in den USA der 1960er Jahre im Einflussbereich der Analytischen Philosophie beobachtet. Letztere war darauf aus, solche »›Mythen‹ oder metaphysischen ›Gespenster‹ wie Geist, Bewusstsein, Wille, Seele, Selbst zu bannen, indem sie die Intentionen dieser Begriffe in Feststellungen über besondere, identifizierbare Operationen, Veranstaltungen, Mächte, Stimmungen, Neigungen, Fertigkeiten usw. auflöst. Das Ergebnis erweist auf merkwürdige Art die Ohnmacht der Destruktion – der Geist spukt nach wie vor.« (1967, 216) Auch die Herausgeber des zitierten Textbuchs scheinen zu ahnen, dass ihre »Vorstellung einer ›Kultur-Theorie‹ einen internen Widerspruch enthalte« (Kimmich u. a. 2010, 9). Unerkannt sucht der Widerspruch sie dort heim, wo sie davon sprechen, »was Kultur ist, wie sie entsteht, sich wandelt, sich von anderen Kulturen abgrenzt« (10). Das Subjekt des Satzes ist Kultur im Allgemeinen, die Aussage bezieht sich auf eine besondere Kultur im Unterschied zu anderen Kulturen. Es ist dasselbe Wort, benennt indes zwei ganz verschiedenartige Erkenntnisobjekte. Das führt sie zu der Frage: »Was aber macht eine Theorie zu einer Kulturtheorie?« Die Definitionen, die sie als beispielhafte Antworten aus drei Veröffentlichungen anderer Autoren zu »Kulturtheorien« anführen,10 haben gemeinsam, dass jeweils »Kultur« oder »kulturell« als definitorische Erklärung (definiens) fungiert, ohne selbst definiert zu werden. Das läuft auf die Definition von Kulturtheorie durch sich selbst hinaus. Das kann nicht anders sein, solange nicht gefragt wird, was ein Phänomen zum kulturellen macht. Haben wir es mit dem Paradox einer Kulturtheorie zu tun, die keine Theorie der Kultur mehr hat? Dabei macht deren »Postulat der Kulturalität aller gesellschaftlichen Handlungsebenen und Handlungssysteme« sie, wie Warneken (2010, 13) sagt, »zumindest theoretisch zu einer Hyperwissenschaft«, was »in einen Kultur-Imperialismus ausarten kann«.

      Wenn es keine explizite Begründung des Erkenntnisobjekts mehr gibt, so spiegelt die Textauswahl bei Kimmich u. a. zumindest ein implizites Verständnis. Es erweist, wie von Marcuse vorhergesagt, »die Ohnmacht der Destruktion – der Geist spukt nach wie vor«, nur dass er jetzt als vulgärmetaphysische Gespenster spukt. Dies nicht vor allem in der Gestalt von Malinowskis »Geistern der Toten auf den Trobriand-Inseln«, die in der Auswahl vertreten sind, sondern im dichotomisch aufgespannten Interpretationsrahmen des kulturwissenschaftlichen Gegenstands insgesamt. Wie selbstverständlich spuken die Geister des ›Heiligen‹, des ›Irrationalen‹, des Gewaltrauschs usw. in dieser Welt ohne sozial- und politisch-ökonomischen Boden. Doch was erfahre ich eigentlich über Kultur, wenn ich von Schamma Schahadat gesagt bekomme, »die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan« werde »als eine Grunderfahrung begriffen« (24), solange nicht darüber nachgedacht wird, was vorstaatliche Gemeinwesen dazu bringt, bestimmte Orte, Dinge oder Akte ›heilig‹ zu halten?11 Die Verdrängung der geschichtsmaterialistischen Kulturtheorien ist vollkommen. Der Preis, den der als einzig legitim sich gebärdende momentane ›Mainstream‹ unbemerkt entrichtet, ist seine theoretische Aushöhlung.

      Kulturforschung aus der Bindung an Kulturen und Kulte

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