Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug
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Hielt man es mit der Devise des alten Polonius aus Shakespeares Hamlet – »Die Dinge so genau zu sehen, heißt, sie zu genau zu sehen« –, schien die Entwicklung dem Recht zu geben. ›Kultur‹ florierte. Zwischen 1969 und 1988 hatte sich zum Beispiel die Zahl der Museumsbesuche verzehnfacht. Doch das zur lukrativen Eventkultur umgemodelte Ausstellungswesen bot keine Ästhetik des Widerstands, sondern allenfalls deren Gegenstand. Näher an der Realität war die Losung, die der französische Kulturminister Jacques Lang ausgegeben hatte: »Wirtschaft und Kultur, derselbe Kampf«. Ja, aber die Kultur hatte ihn als Söldnerin der Wirtschaft zu kämpfen. In der Bundesrepublik war »›Kultursponsoring‹ fast zu einem Modebegriff geworden« (Borgers 1989), und von den »Industriellen« konnte gesagt werden, sie »überschätzen oder fürchten die Kultur mehr und mehr, indem sie sie – fördern« (Schreiber 1989). Allerdings war das viel Lärm um die »knapp vier Prozent der öffentlichen Kulturausgaben«, die sich damals der »privaten Kulturfinanzierung« verdankten (Fohrbeck 1989). Doch der Staat besoldete Kultur zunehmend nach Kriterien einer Art kultureller Infrastruktur der Kapitalverwertung. ›Kulturangebote‹ für prospektive Hightech-Regionen war zu einem vordringlichen staatlichen Politikfeld geworden. In der Tat kann das hochtechnologisch investierte Kapital an einem ›kulturell‹ attraktiven Standort günstiger gute ›Wissensarbeiter‹ zusammenziehen. ›Kultur‹ gilt daher als eine der wichtigsten Anziehungskräfte von Kapitalniederlassungen. Die Zeiten waren vorbei, als Hilmar Hoffmann und Hermann Glaser auf diesem Feld noch für die Sozialdemokratie punkten konnten. Die »Vorreiterrolle in Sachen Kultur« war »längst an die Unionsparteien übergegangen« (Möller 1989).
Es war der Moment der deutschen ›Wiedervereinigung‹, ermöglicht durch den Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus. Mit dem westlichen Fordismus hatte dessen befehlsadministratives Regime konkurrieren können, aber gegen den aufsteigenden Hightech-Kapitalismus musste es den Kürzeren ziehen. Die neue Produktionsweise verlangte nach einer ganz anderen Regierungsweise und einem anderen Subjekttypus. Die Zeit der monoton-repetitiven Fließbandarbeit im Rahmen standardisierter, unflexibel mechanisierter Massenproduktion war abgelaufen, die dieser lange Zeit entsprechende Kultur repressiver Normalisierung war zum Hindernis geworden. In der Sowjetunion endete die Perestrojka unter Gorbatschow, die einen Hightech-Sozialismus und den entsprechenden Umbau der ökonomischen Struktur und des Ensembles der Superstrukturen angezielt hatte, im Aufruhr der Nationalismen des Vielvölkerstaates und in Putsch und Gegenputsch mit der Kapitulation vorm Neoliberalismus.18 Das Ausscheiden der SU und der von ihr gestützten Entwicklungsregime in der Dritten Welt lieferte den Globus dem neoliberal betriebenen Kapitalismus der transnationalen Konzerne auf Basis der Hochtechnologie aus. Das große Abräumen der Industrie unterm Druck des Übergangs ins elektronische Zeitalter suchte, nach dem Vorspiel des »Abräumens« der DDR-Wirtschaft, nun erst recht auch die Bundesrepublik heim – wie alle andern entwickelten kapitalistischen Gesellschaften. In China wurden, nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung, die Weichen zum Aufstieg zur ›Fabrik der Welt‹ gestellt, dem anderen Gesicht eines weiteren Schubs der Entindustrialisierung im Westen. Veränderungen im Status der ›Kultur‹, die in den 1960er Jahren im Ruhrgebiet begonnen und in den 70er Jahren Fahrt aufgenommen hatten, erhielten nun ihr definitives Gepräge. Lothar Späth brachte es auf den Punkt: »Nur eine schöpferische Gesellschaft, die alle ihre kulturellen Ressourcen gleichermaßen nutze, […] könne die Rolle eines Fachgeschäfts auf dem Weltmarkt übernehmen, zwischen den Kaufhäusern Amerika und Japan.« (Zit. n. Möller 1989)
Just als der ›Kultur‹ die Aufgabe zugeschrieben wurde, die unterschiedlichsten »Life-Styles« der »Leistungsträger« zu alimentieren und zugleich für jenes schöpferische Reservoir zu sorgen, das den technologischen Abstand des deutschen Kapitalismus zu seinen Konkurrenten auf dem Weltmarkt sichern sollte, zumal mit China eine ganz andere Konkurrenzmacht sich heranbildete, gerade in diesem historischen Augenblick entledigte man sich in der Kulturwissenschaft des kritischen Stachels, um sich zu einem neuen kulturellen Mainstream zu formieren. Mit dem widerständigen Moment schwand zugleich der Raum für einen theoretisch reflektierten Kulturbegriff.
Zweites Kapitel
Was ist kulturell an der Kultur
Hier wurde eine Kultur geschaffen, die im Dienst der Politik stehen sollte,
wir aber dachten uns eine Kultur (Kunst), die uns ein Mittel sei,
uns selbst gegenüber der Politik zu verwirklichen.
Peter Weiss, Notizbücher 1971–1980
1. Kultur als »Prozess, der über die Menschheit abläuft«
Das Bild von ›Kultur‹, das sich aus der Zusammenstellung kanonisierter Textfragmente im eingangs zitierten Lehrbuch (Kimmich u. a. 2010) aufdrängt, entspricht am ehesten der ›metapsychologischen‹ Projektion Sigmund Freuds: Kultur als »Prozess, der über die Menschheit abläuft«, wie es bei ihm in symptomatisch bedeutungsvoller grammatischer Fehlleistung heißt (Unbehagen, 249). Wie ein der Kontrolle entglittener Golem gleicht die gegen die Menschen Verselbständigte einem zerstörerischen und letztlich selbstzerstörerischen19 Organismus.20
Undurchschaubar für die Individuen, verurteilt sie diese dazu, illusionär und ebenso vergeblich wie verloren zu agieren. Für die Menschen ist es »einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt«, doch alles an der Kultur widersetzt sich diesem Ziel, und »man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (208).21
Was hier als Kultur gilt, »hat eine sehr gewaltsame Realität«, nämlich »die der getrennten und unabhängigen Macht des Ganzen über den Individuen«, wie sich mit Marcuse (1967, 219) sagen lässt. Freuds »Unbehagen in der Kultur« entziffert Marcuse als »Ungenügen der Zivilisation« (Triebstruktur, 97) und holt so das Problem von der Triebstruktur der Individuen in die Herrschaftsstruktur der Kultur zurück. Während Freud »keine höhere Rationalität« kenne, »an der die herrschende hätte gemessen werden können« (Triebstruktur, 74), bestimmt Marcuse den Maßstab einer kritischen Kulturauffassung durch den »Grad erfüllter menschlicher Freiheit […], die durch die wirklich rationale Ausnutzung der produktiven Kapazität erzielt werden könnte. Legt man diesen Maßstab wirklich an, dann erhält man den Eindruck, dass in den Brennpunkten der industriellen Zivilisation der Mensch in einem Zustand sowohl kultureller wie physischer Verarmung gehalten wird.« (89)22
In dem von Kimmich u. a. in ihre Textsammlung aufgenommenen Aufsätzchen von Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, wo es um die inzwischen kaum mehr nachvollziehbare Provokation geht, als welche seine Theorie des Unbewussten vor hundert Jahren empfunden wurde, ist davon allerdings nicht die Rede. Auch käme man nicht darauf, dass Freud sich mehr oder weniger von allen anderen der durch die Lehrbuch-Auswahl kanonisierten Autoren dadurch unterscheidet, dass er sehr wohl materialistischen Boden unter den Füßen hat, wenngleich er von diesem alsbald in spekulative Lüfte entschwebt. Denn Freuds kulturtheoretische Spekulationen ankern seinem Selbstverständnis zufolge in der »wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft« (232). Allerdings konkretisiert er diese Struktur nicht, sondern begnügt sich damit, den von ihm vorgestellten kulturellen Repressionszusammenhang als »von der realen Not« (265) erzwungen zu behaupten.
Als »gewiss nicht unwichtigsten Charakterzug einer Kultur« würdigt Freud, »in welcher Weise […] die sozialen Beziehungen geregelt sind, die den Menschen als Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt eines anderen, als Mitglied einer Familie, eines Staates betreffen«