Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

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Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug

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überhaupt kulturell ist« (ebd.), sei das »Triebopfer« (226) oder die »Kulturversagung« (227). Weil für ihn »Kultur auf Triebverzicht aufgebaut« ist, erklärt er schneidend: »Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut.« (226) Wankend macht ihn das Phänomen der Schönheit und ihrer Anziehungskraft: »ihre kulturelle Notwendigkeit ist nicht einzusehen, und doch könnte man sie in der Kultur nicht vermissen« (214).23 – Die Denkform, die Freud bei alledem so selbstverständlich ist, dass er sie nicht bemerkt, geschweige denn rechtfertigt, ist die grundbürgerliche des Individuums im Gegensatz zur Gesellschaft. Die »Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft« gilt ihm als »der entscheidende kulturelle Schritt« (225) über alle Einzelnen hinweg. Doch fasst man Macht konkret, als Handlungsfähigkeit, lässt sich leicht einsehen, dass es außerhalb der Gesellschaft weder Macht fürs Individuum noch überhaupt ein Individuum für die von Freud vorgestellte Macht geben kann. Ebensowenig könnte bei einem Kaspar Hauser außerhalb aller Kultur von Freiheit gesprochen werden. Vorstellungen wie diejenige des in seiner Vereinzelung vor und außerhalb aller Gesellschaftlichkeit handlungsfähigen Individuums und des »Kampfes zwischen Individuum und Gesellschaft« (266) sind Rückprojektionen des bürgerlichen Privateigentümers, für den der Mensch dem Menschen ein Konkurrent ist. Ungeachtet dessen ist es Freud hoch anzurechnen, dass er überhaupt die Frage nach dem kulturellen »Element« und der »Keimzelle der Kultur« (242) aufwirft. Denn von der Antwort auf diese Frage dürfen wir erwarten, dass sie uns den Schlüssel zur Beantwortung unserer Leitfrage in die Hand gibt, was überhaupt kulturell an der Kultur ist.

      I was always insisting that the moment

       of theoretical reflection is absolutely essential.

       The political moment was essential.

       But first you had to reach the conceptual level.

      Stuart Hall (2008b)

      Der Anspruch an theoretische Begriffe erschöpft sich nicht darin, empirischen Erscheinungen einen Namen zu geben. Begriffe müssen wie Skalpelle geschärft werden, um der Anatomie der Erscheinungen auf den Grund zu gehen. Für unsere Untersuchung müssen wir uns darüber klar werden, was es mit dem Wort ›Kultur‹ und dem Sprachgebrauch auf sich hat, von dem Freud sich »ohne Bedenken […] leiten« ließ (Unbehagen, 220). Der Name dieser noch immer rätselhaften Sache kommt so selbstverständlich und einfach daher, weil sich in ihm, wie Marx in der epistemologischen Einleitung zu den Grundrissen sagt, eine der »Daseinsformen, Existenzbestimmungen […] dieser bestimmten Gesellschaft« ausdrückt (Marx, 42/40). Im Unterschied zu einem Begriff im Rahmen einer Theorie macht das den Term ›Kultur‹ zu einer der Kategorien, in denen eine bestimmte Gesellschaft, und zwar die bürgerliche, ihre strukturelle Spezifik ausdrückt.24 Kultur, Staat, Ökonomie usw. begegnen unmittelbar als das, wozu sie, wie Adorno sagt, »historisch tatsächlich in weitem Maß geworden sind, als statische, diskret gegeneinander abgesetzte Blöcke, bloße Gegebenheiten« (GS 8, 145). Das Verhältnis der Individuen zur ›Kultur‹ und zu den anderen verdinglichten, kategorial fixierten25 gesellschaftlichen Existenzformen lässt sich mit Heidegger als vorgängiges »In-Sein« charakterisieren, wodurch »innerweltliches Seiendes je schon erschlossen« ist (SuZ, 207). So ist jedem ›klar‹, was ›Kultur‹ meint, ohne dass er es begreift. Hierauf lässt sich anwenden, was Hegel über die »natürliche Logik« eines derart in seine Konstitutionsbedingung eingeschlossenen Bewusstseins feststellt: Ihr »Gebrauch der Kategorien […] ist bewusstlos«.26 Ein »Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, […] bringt seine Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene«.27 Marx zieht daraus die Konsequenz, dass es sich für Wissenschaft verbietet, solche immer schon interpretierten Real-Kategorien »ohne weitere Kritik« vom kapitalistischen »Alltagsleben« sich vorgeben zu lassen (23/559), und dass man die kategoriale Fixierung des Vorhandenen von seiner tätigkeitsvermittelten Gewordenheit her im kritischen Begriff auflösen muss – ohne darüber zu vergessen, dass die reale Verknotung in der Realität unaufgelöst bestehen bleibt. Ohne Kritik gibt es keine Erkenntnis, die diesen Namen verdient.

      Ein kritischer Gebrauch des Kulturbegriffs speziell durch Archäologen, Althistoriker, Ethnologen usw., die sich mit vorbürgerlichen Gesellschaften befassen, kann sich anregen lassen durch die Dialektik einer anderen ihrem Begriff widersprechenden Real-Kategorie, nämlich der ›Arbeit‹. Marx umreißt deren Dialektik in der Einleitung zu den Grundrissen: »Arbeit scheint eine ganz einfache Kategorie. Auch die Vorstellung derselben in dieser Allgemeinheit – als Arbeit überhaupt – ist uralt. Dennoch, ökonomisch in dieser Einfachheit gefasst, ist ›Arbeit‹ eine ebenso moderne Kategorie wie die Verhältnisse, die diese einfache Abstraktion erzeugen.« (42/38) Erst Verhältnisse, in denen Lohnarbeit die herrschende Form abhängiger Arbeit geworden war, mit einem Wort: kapitalistische Verhältnisse, konnten diese Abstraktion, »Arbeit sans phrase« (39), hervortreiben. Das macht ›Arbeit‹ als spezifisch bürgerlich-kapitalistische Kategorie zum allen evidenten Ausdruck einer massenhaften Daseinsform. Umgekehrt gibt es Existenzbedingungen des kapitalistischen Subjekts, die für dieses kategorial inexistent sind – etwa, fundamental für den Kapitalismus, die ›Mehrarbeitszeit‹. Bezogen auf die Lohnarbeit, bezeichnet dieser Ausdruck daher keine Kategorie im sozial-ontischen Sinn, sondern einen kritisch-theoretischen Begriff.

      Obwohl ›Arbeit als solche‹ eine grundbürgerliche Kategorie ist, wird ein Arbeitsbegriff auch zur Interpretation von nicht-bürgerlichen und nicht-kapitalistischen Gesellschaftsformen gebraucht und ist unentbehrlich. Doch ein unkritisches Aufgreifen dieser Kategorie verbietet sich für die Erforschung vorkapitalistischer Gesellschaften.28 Die Forscher sind angehalten, ›Arbeit‹ als abstrakt-allgemein verstandene zunächst in ihrer unausgesprochenen Formbestimmtheit als Lohnarbeit zu reflektieren und den Zusammenhang und die Wechselwirkung dieser Kategorie mit den anderen Fundamentalkategorien der bürgerlichen Gesellschaft zu rekonstruieren. Erst dann können sie sich an die Frage der transsozialen ›Übersetzbarkeit‹ dieser Kategorie und an die Untersuchung des kategorialen Zusammenhangs ihres vorbürgerlichen Erkenntnisobjekts begeben. Kurz, ›Arbeit‹ muss aus der Kategorieform in die erst wirklich allgemeine Form des Begriffs umgearbeitet werden, der die kapitalistische Genesis der Kategorie Arbeit-als-solche ins Bewusstsein hebt und damit die bewusstlose Fixierung auflöst. Staat, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft usw. – keines dieser kategorialen Sozialexistenziale entbindet die Forschung von solcher transsozialen Übersetzungsarbeit.

      Für die ›Kultur‹ gilt dieses Übersetzungsgebot besonders, weil in ihrem Fall der Zusammenhang mit der Struktur bürgerlich-kapitalistischer Daseinsbedingungen besonders versteckt ist. Zwar nicht der Arbeit als solcher, wohl aber der Lohnarbeit steht es auf der Stirn geschrieben, wes Kind sie ist. Dass ihr antagonistischer Komplementär das Kapital ist, verkörpert durch den Unternehmer, lässt sich leicht einsehen.29 Die ›Kultur‹ dagegen sprudelt zwar von Erzählungen, doch dieser Ort von Geschichten dementiert, selbst einen Ort in der Geschichte zu haben. Er suggeriert, es habe ihn zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen gegeben, und immer als etwas Wertvolles, dem Kult Verwandtes. Wenn das Beispiel der Arbeit zeigt, »wie selbst die abstraktesten Kategorien trotz ihrer Gültigkeit – eben wegen ihrer Abstraktion – für alle Epochen doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen« (42/39), dann gilt dies doppelt für die Kultur. Zunächst ist die bewusstlose Bestimmtheit dieser Abstraktion ›Kultur‹ zu analysieren. Ihre Einschreibung ins bürgerliche Kategoriengefüge muss entschlüsselt werden.

      Eines Stücks dieser Arbeit hat sich Pierre Bourdieu in seiner »Sozialkritik der Urteilskraft« unterzogen, einem sozioanalytischen Gegenstück zu Kants Kritik der Urteilskraft.30 Hier entschlüsselt sich das Geheimnis, warum diejenigen, die in ›Kultur und Kunst‹ schwelgen, so oft von gesellschaftlicher Herrschaft schweigen. Die verschwiegene selbst hält sich ja aus

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