Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

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Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug

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und noch immer aktuelle Ansätze der Sprachkritik entwickelt.34 Nur dass die geschichtsmaterialistische Methode gesellschaftstheoretisch eingebettet ist. Marx belässt es nicht bei bloßer Sprachkritik der politischen Ökonomie. Von einer philosophischen Grundlegung der Kulturtheorie können wir verlangen, dass sie zur Analyse von Praxiszusammenhängen befähigt,35 einer Analyse, die ihre Substanz verloren hat, wo immer ihre Adepten sie des gesellschaftstheoretischen Fundaments und des widerständigen Geistes beraubt und auf beschreibende Ethnographie reduziert haben, nicht selten zugunsten eines »juste Milieu«, das sich »bereitwillig seine Spitzen abgebrochen hat« (Schindler 2002, 279). Sie orientiert auf wechselwirkende Praktiken in antagonistischen Verhältnissen, die sich nicht in Diskurse auflösen lassen. Kurz: Statt von einem vermeintlichen Wesen der Kultur auszugehen, müssen wir aufs ›kulturelle‹ Wirken zugehen. Doch können wir dieses trennscharf bestimmen, ohne ein Wesenswissen vorauszusetzen?

      Hier ist eine Vertiefung unserer epistemologischen Reflexion des Kulturellen angezeigt, um uns gegen das Missverständnis zu wappnen, Begriffe seien Namen des faktisch Gegebenen. Begriffe sind Abstraktionen, die dann brauchbar sind, wenn sie tatsächliche Bewandtnisse komplexer Gegenstände erfassen. Sie sind analytisch gewonnene Denkbestimmungen, deren Aufgabe es ist, auf dem fürs Denken einzig gangbaren Weg Konkretion zu erreichen.

      Es hilft, sich die Weise anzusehen, in der Marx sich das Problem zurechtgelegt hat, als er die Kritik der politischen Ökonomie noch vor sich hatte: Spontan scheint es richtig, »mit dem Realen und Konkreten […] zu beginnen«, bei der Ökonomie etwa mit der Bevölkerung. Doch »Bevölkerung« ist eine schlechte Abstraktion, »wenn ich z. B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn. Z. B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z. B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen, und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da, wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen.« (42/34f) Daraus folgt der epistemologische Grundsatz: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozess der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist.« (35)

      Auf unser Thema angewandt, heißt das: Kulturtheorie kann nicht beim opaken empirischen Konkretum anfangen, dem der Hauptstrom einer Gesellschaft den Namen »Kultur« beilegt. Sie steht zunächst vor der Aufgabe, die objektiven Bestimmungen analytisch auseinanderzulegen und begrifflich zu fassen, die sich im empirischen Phänomen teils strukturell verbinden, teils überlagern.

      Dazu muss sie die Frage der Spezifik des Kulturellen an der ›Kultur‹ trennscharf fassen und begründen. Ein Blick auf die marxsche Arbeitsweise ist auch hier lehrreich: Um die Frage der Spezifik der kapitalistischen Ökonomie beantworten zu können, musste er die Keim- und Elementarform bestimmen, aus der sich sein Erkenntnisobjekt im strukturgenetischen Doppelsinn aufbaute. Nach langem Experimentieren fand er sie in Gestalt der Warenform oder Wertform, die er ihrerseits aus der Praxis unter Bedingungen privat-arbeitsteiliger Produktion ableitete.

      Auch der theoretische Kulturbegriff ist nach dem bisher Entwickelten gehalten, bei der Elementar- und Keimform zu beginnen. Wir nennen sie vorläufig das Kulturelle Moment. Nach ihm fragend, interessieren wir uns für die Quellform der »Kultur«, so wie wir an anderer Stelle Keimform und Modus der Ideologie das Ideologische genannt haben.36 Das Ideologische entspringt der Herrschaft, die sich rückwirkend aus ihm begründet. Seine historische Grundlage ist die staatlich reproduzierte, arbeitsteilige Klassengesellschaft. Grob gesprochen fällt sie mit dem Beginn der geschriebenen Geschichte zusammen. Insgesamt umfasst sie nicht mehr als die jüngsten Minuten des geschichtlichen Tages der menschlichen Gattung. Von der Kultur dagegen müssen wir annehmen, dass ihre Elementarform auf derselben anthropologischen Basisebene entspringt, auf der diejenigen humanspezifischen »Seiten der sozialen Tätigkeit« angesiedelt sind, die »gleich von vornherein in die geschichtliche Entwicklung [eintreten]«. Marx und Engels, aus deren gemeinsamer Gründungsschrift der materialistischen Geschichtsauffassung diese Formulierung stammt, haben als solche »Seiten der ursprünglichen geschichtlichen Verhältnisse« fünf gleichursprüngliche Momente skizziert: 1. die »Produktion des materiellen Lebens selbst«, einschließlich der Lebensmittel; 2. die »Erzeugung neuer Bedürfnisse«; 3. die Familie, »im Anfange das einzige soziale Verhältnis«, später ein untergeordnetes;37 4. die Tatsache, »dass eine bestimmte Produktionsweise […] stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens […] vereinigt ist«; 5. Bewusstsein, aber »nicht von vornherein als ›reines‹ Bewusstsein«, sondern »mit Materie ›behaftet‹ […], die hier in der Form von […] Tönen, kurz der Sprache auftritt« (DI, 3/28-30). In den Gründungsschriften der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1973; Holzkamp-Osterkamp 1975 u. 1976; Schurig 1975 u. 1976) ist diese Skizze später, auf der Spur der Kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie, im Material der in den 1970er Jahren verfügbaren biologischen und psychologischen Forschungen präzisiert und wissenschaftlich konsolidiert worden.

      In derselben, durch unsere körperliche Organisation bedingten gattungsspezifischen Freiheit von Festlegungen38 wie diese fünf provisorisch skizzierten weiterwirkenden ursprünglichen Momente des Menschseins entspringt nach unserer Annahme das Kulturelle. Auf zugleich offene und umfassende Weise sind wir einzig auf den geschichtlichen Produktionsprozess des menschlichen Wesens festgelegt, auf Basis sprachlich vermittelter gesellschaftlicher Arbeit.39 Wo Nahrungsgewinnung, die zur Gewinnung verlangten Werkzeuge, die Aufzucht der Kinder, die Art der Unterkunft und das Wie des Zusammenlebens weder instinktiv noch in der körperlichen Organausstattung festgelegt sind, steht jegliches Wie und Was zur Entscheidung und damit zur Unterscheidung an. Wie alles Instrumentelle als ›zweckmäßig‹ in Zielrichtung liegt, so ›spielt‹ überall ein Moment jener ersten und letzten Zweckmäßigkeit aller bloßen Mittel, eben des Selbstzweckhandelns mit, das wir als den Sinn der kulturellen Unterscheidung gefasst haben. Das Kulturelle in diesem ›mitspielenden‹ Sinn kann daher keine eigene »Seite« neben den fünf genannten sein, sondern muss als Moment in jedem der fünf Momente oder als mehr oder weniger hervortretender Aspekt aller anderen Seiten gedacht werden.40 Auf jeden Fall müssen wir das kulturelle Moment als gleichursprünglich mit dem Menschsein annehmen, auch wenn die kategoriale Institutionalisierung von ›Kultur‹ erst eine Spätgründung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist. Obwohl also seit Urzeiten in der Vorgeschichte der Kultur wirksam, ist das kulturelle Moment wie die anderen Grundbestimmungen dennoch nicht gewesene, sondern fortwesende Geschichte als ein allgegenwärtiges Moment menschlicher Lebenspraxis.

      Durch seine ›Winzigkeit‹ und Flüchtigkeit im Vergleich zur überwältigenden Dominanz der geronnenen Verhältnisse und Gewohnheiten bleibt dieses kulturschöpferische Moment zumeist verborgen. In ihm erfindet sich die menschliche Gattung in jedem Individuum fortwährend neu, auch wenn nur das Wenigste davon ins Sozialerbe Eingang findet und damit Dauer gewinnt. In diesem flüchtigen Element ankert unsere Untersuchung. Selbst in entfremdeten Verhältnissen wirkt es und geht als Moment der Selbstbejahung in jenem Amalgam aus Verhältnissen und Verlangen nicht völlig auf. Es mag auf einen Differenzialwert schrumpfen. Solang es indes größer als Null ist, kann (und muss) man mit ihm rechnen, wie man mit der Glut in der Asche rechnet, um das Feuer der Tätigkeit erneut anzufachen. Auch wenn es im Moment der kulturellen Unterscheidung nur aufblitzt, also keine nennenswerte Ausdehnung auf der Zeitachse hat, verlangt das Kulturelle nach seiner eigenen Zeit. Sie zeichnet sich aus durch Langsamkeit und Wiederholung, wie die verleugnete Mutter aller Kultur, die Agrikultur, auf die wir im folgenden Kapitel zu sprechen kommen.41

      Nach

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