Heilbuch der Schamanen. Felix R. Paturi
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Die Wirklichkeit schamanischer Reisen
Spirituelle Reisen ins Jenseits sind jedem Menschen, der sich mit Mystik beschäftigt, vertraut. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich dabei um einen Schamanen, Christen oder Andersgläubigen handelt. So ist auch von Mohammed, dem großen Propheten des Islam, zumindest eine spirituelle Reise bekannt, die uns überliefert ist.
Auf einem weißen, geflügelten Ross ritt er eines Nachts von der Kaaba in Mekka aus zunächst nach Jerusalem und von dort weiter durch Hölle und Himmel. Für ihn selbst war diese »Nachtfahrt «, nach der die 17. Sure des Korans benannt ist, wirklich. Und das steht auch in keinem Widerspruch zu den Beteuerungen seine Gattin, er habe die ganze Nacht auf den 17. Rabî'al-awwal im Jahre vor der Auswanderung nach Medina, zu Hause in seinem Bett verbracht.
Die Wiederhol- und Reproduzierbarkeit der Reisen
Es gibt eben in der Mystik wie im Schamanismus, die sich beide ohnehin weitgehend überschneiden, verschiedene Realitätsebenen. In ihrem Wirklichkeitsanspruch sind sie gleichberechtigt. Wie real schamanische Reisen in einer ganz anderen Hinsicht sind, belegt auch ihre Wiederhol- und Reproduzierbarkeit. Zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen erlebten und erleben Schamanen auf ihren Reisen grundsätzlich Gleichartiges, wie in den obigen Beispielen beschrieben.
Es gibt tatsächlich eine ganz Reihe von Bereichen, die früher oder später jeder schamanisch arbeitende Mensch kennen lernt: die untere Welt, die obere Welt, das große Nichts, die Höhle der verlorenen Kinder, das Grenzgewässer zum Reich der toten Seelen (das in zahlreichen Mythologien eine dominierende Rolle spielt), eine weite, ruhige grüne Tallandschaft und noch unzählige andere Welten.
Die Übereinstimmungen dieser Szenarien sind derart augenfällig, dass sich Michael Harner's Foundation of Shamanic Studies in einem wissenschaftlichen Großprojekt daran wagte, Zehntausende von Reiseberichten auf verwandte Bilder zu untersuchen, um eine »Kartografie der nicht alltäglichen Realität« zu erarbeiten.
Jung definierte das transpersonale Unbewusste als »die geistige Erbmasse der Menschheitsentwicklung«. Ausdruck dieser Gemeinsamkeit sind nach Jung die so genannten Archetypen (Urbilder), die - unabhängig von Kultur und Zeitalter - in Träumen, religiösen Symbolen, Mythen und Märchen auf tauchen.
Subjektive Empfindungen und objektive Wirklichkeit
Wer solche nicht alltäglichen Szenarien das erste Mal als erwachsener Mensch bereist, ist danach im Allgemeinen sehr erstaunt und hält das subjektiv Erlebte für Früchte seiner eigenen Phantasie. Doch schon in einem schamanischen Basisseminar mit etwa zehn Personen lassen sich interessante Vergleiche ziehen. Bei allen Teilnehmern, die diese Räume erstmals betreten haben, ergeben sich erstaunlich viele Übereinstimmungen - auch im Vergleich mit »Reiseberichten« von Stammesschamanen aus uns fremden Kulturen.
Das überpersönliche Unbewusste C.G. Jungs
Der Psychologe Carl Gustav Jung (1875-1961), dessen Arbeiten nicht nur stark auf die Psychotherapie sondern daneben auch auf die Religions- und Mythenforschung sowie die Ethnologie wirkten, prägte nicht von ungefähr den Begriff des transpersonalen Unbewussten. Er hatte selbst durch tibetisch inspirierte Meditationsübungen und im Zug seiner Forschungsarbeiten zum Sinnzusammenhang von Natur und Seele erfahren, dass Erlebnisse in nicht alltäglichen Realitätsräumen weit über die eigene Phantasie und über das eigene Unbewusste hinausführen können.
Diese Erfahrungsräume erscheinen uns zwar zunächst fremdartig, sind aber trotzdem wirklich und objektiv. Solche Bereiche bezeichnete Jung als transpersonal, über die persönliche Erfahrung, das Unbewusste und die subjektiv empfundene Wirklichkeit hinausgehend.
Unterwegs in bekanntes Land
Wollen wir uns heute dem Schamanismus praktisch nähern, dann können wir uns die gesammelten Erfahrungen der in früheren Zeiten und heute praktizierenden Schamanen zunutze machen. Das ist von großem Vorteil. Schließlich zeigen uns diese Erlebnisse, wohin wir reisen können und was uns dort erwartet, ohne Schaden zu nehmen.
Für die europäischen Seefahrer und Eroberer des 15. und 16. Jahrhunderts beispielsweise war es weitaus schwerer und risikobehafteter, in ferne Länder wie das unbekannte Amerika, Südafrika, in arktische Gewässer oder nach Südostasien zu gelangen, als später für ihre Kinder und Kindeskinder. Schließlich mussten die Pioniere ihre Zielhäfen erst einmal entdecken und dafür eine mühevolle Reise ins Ungewisse mit Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen.
Auf den Schamanismus übertragen, bedeutet dies: Wenn man vor Antritt einer spirituellen Reise weiß, wo das Ziel liegt und was einen dort erwartet, wird das Reisen leichter, und man benötigt nur noch einen Bruchteil der Vorbereitungen.
In der nordischen Mythologie nimmt der Weltenbaum, die Weltesche Yggdrasil, ebenfalls eine zentrale Stellung ein. Die Weltesche breitet ihre Äste über das All, und ihre Wurzeln sind die Quellen der Weisheit und des Schicksals.
Die viergeteilte Welt
Was genau erwartet uns nun auf unserer schamanischen Reise? Dazu möchte ich mit wenigen Strichen ein Bild der schamanischen Kosmologie skizzieren.
Der Schamane versteht die Welt als viergeteilt. Es gibt eine untere Welt, die Religionen wie das Christentum oder der Islam als Hölle »umfunktioniert« haben. Und es existiert eine obere Welt, die Christen und Moslems in ihren Überlieferungen als Himmel bewerten. Auch die Naturvölker kennen eine untere und obere Welt, nur fehlt die auf Belohnung und Strafe, Gut und Böse zielende Wertung. Die eine Welt ist nicht schlechter oder besser als die andere. Beide sind notwendig und lediglich verschieden in ihrer Art und Darstellung.
Vergleichen wir dies einmal mit einem pflanzlichen Lebewesen. Ein Baum benötigt mehrere Faktoren, wie etwa Erde und Luft, zum Leben und Gedeihen. In vielen Kulturkreisen ist er daher auch ein zentrales Symbol für die schamanischen Wirklichkeitsbereiche. Und damit wird er zum Weltenbaum, dessen Wurzeln den Erdmittelpunkt erreichen und dessen Krone bis in den Himmel ragt.
Die mittlere Welt
Zwischen unterer und oberer Welt liegt die mittlere Welt. Das ist die Welt, in der wir in unserem irdischen Alltag leben. Die mittlere Welt in sich ist zweigeteilt: in eine alltägliche Wirklichkeit und eine nicht alltägliche. Alltäglich sind beispielsweise Schule und Finanzamt, Urlaubsreise und Zahnarzt. Nicht alltäglich sind die Zusammenhänge und Vorstellungen hinter diesen materiell und sinnlich wahrnehmbaren Fassaden. Hier ist eine Beschreibung mit Worten schwer. Lassen Sie mich diesen Bereich grob und nicht völlig zutreffend als Seelenleben bezeichnen. Ein Beispiel soll das erläutern.
In der Vorstellungswelt der germanischen Religion gibt es Midgard, den Lebensraum der Menschen, Utgard, dort wohnen die Riesen, die Unterwelt Hel sowie Asgard, das Land der Götter.
Alltägliche und nicht alltägliche Welt
Wenn ich den täglichen Weg zu meinem Arbeitsplatz zu Fuß, mit dem Auto oder mit der Straßenbahn zurücklege, dann tue ich das in der alltäglichen Realität der mittleren Welt. Wenn ich abends im Bett die Augen schließe und mir den Weg zur Arbeit Schritt für Schritt genau vorstelle, dann ist auch das noch alltägliche Realität. Wenn sich währenddessen aber vor meinem geistigen Auge