Krähen über Niflungenland. Gunnar Kunz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Krähen über Niflungenland - Gunnar Kunz страница 12
Gislher konnte sich nicht rühren. Mit grausiger Faszination starrte er auf die turmhohen Wolken, die das Kommen des Wüters ankündigten. Das Gebüsch hinter ihm zitterte. Wild zerrte eine Bö an den Ästen und rüttelte an den Wipfeln der Bäume, die sich unter dem Druck beugten. Die ersten Zweige brachen. Gislher stand inmitten dieses Chaos‘, dem Aufruhr der Natur preisgegeben. Aus den Augenwinkeln sah er etwas vorbeifliegen, wahrscheinlich eine Dryade auf der Flucht vor dem unberechenbaren Groll des Gottes. Vielleicht war es auch die Windsbraut, die auf dem heißen Atem des Sturms ritt.
Er musste von hier verschwinden! Wenn Wodan über ihn hinwegfegte, würde er ihn zerquetschen wie eine Laus, ohne es auch nur zu bemerken. Aber wohin? Er konnte kaum mehr als ein paar Schritte weit sehen. Gislher stemmte sich gegen den Orkan und tappte aufs Geratewohl los, mit dem Arm seine Augen schützend. Mehr als einmal stolperte er und erlangte nur mühsam das Gleichgewicht wieder. Um ihn herum erklang ein mächtiges Heulen, das Heer der Gefallenen musste bereits in der Nähe sein. Gislher lief schneller, obwohl er kaum wusste, wohin er seine Füße setzte, fort, nur fort von der Gewalt des Asen! Das Horn Wodans dröhnte, das Stampfen geisterhafter Pferdehufe wurde lauter und lauter, und dann war das Wilde Heer heran.
Von rasendem Zorn beherrscht, jagte Wodan mit seinen Kriegern durch den Wald, entwurzelte Bäume und hetzte Blätter, Tiere und Dryaden vor sich her. Je mehr er tobte, desto mehr wurde seine Wut angestachelt. Kampfekstase trieb ihn zu immer neuen Orgien der Vernichtung, nicht umsonst nannte man ihn den Besessenen. Roh schüttelte er einen Baum nach dem anderen und riss ihn mit sich fort, Büsche und Farnkraut wirbelten durch die Luft. Dann entdeckte der Wüter den fliehenden Menschen, schnappte ihn mitten im Lauf und warf ihn gegen einen Stamm. Mit einem Schmerzensschrei schlug Gislher auf und zerschrammte sich Gesicht und Hände. Es blieb ihm keine Zeit, sich zu erholen, denn der Ase deckte ihn mit einem Schauer aus Steinen und Ästen ein und ließ seine Übellaunigkeit an ihm aus. Wimmernd bedeckte der Niflunge das Gesicht mit seinen blutigen Händen.
Donar bezeugte dem Wüter Achtung, indem er seinen Hammer schleuderte. Einen Herzschlag lang wurde es taghell, dann krachte es ohrenbetäubend, und mit einem Mal stand eine Eiche in Flammen. Eine breite Schneise der Zerstörung hinter sich lassend, raste das entfesselte Totenheer um den brennenden Baum, der nun ihr Zeichen trug.
Gislher sah eine entwurzelte Buche auf sich zufliegen, konnte jedoch nicht rechtzeitig ausweichen, und dann wurde sein Bein darunter begraben. Schmerz zuckte durch seinen Oberschenkel. Er schrie auf und versuchte mit aller Kraft, das Gewicht von sich zu schieben, vergeblich. In diesem Augenblick entdeckte er, dass die brennende Eiche sich gefährlich in seine Richtung neigte. Wenn die Wurzeln nachgaben, würde sie ihn zermalmen! Zermalmen und zu Asche verbrennen! Gislher verdoppelte seine Anstrengungen und drückte gegen den Stamm, doch es half nichts. Schluchzend gab der Junge auf und sank in das nasse Moos zurück. Er würde hier sterben! Regen prasselte auf ihn ein und durchnässte ihn bis auf die Haut, sein Gesicht brannte von den Schlägen Abertausender von Tropfen. Mit kaltem Eisatem hauchte ihn der Ase an und packte ihn plötzlich an der Schulter. Gislher schrie auf und wehrte sich.
»Halt still, verdammt noch mal!«, fauchte Hagen. Seine groben Worte verbargen nur schwach seine Erleichterung, den Jungen am Leben zu finden. Der brennende Baum stöhnte unter der Wucht, mit der das Heer der Einherier ihm zusetzte. Mit einem Blick erkannte der Waffenmeister die Lage und ergriff den Stamm auf dem Bein des Niflungen. Er spannte die Muskeln an, biss die Zähne zusammen und zog mit aller Kraft, doch der Baum bewegte sich nicht von der Stelle. Funken und brennende Äste flogen von der lodernden Eiche herüber. Hagen musste zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden.
Noch einmal umschlang er die Buche mit beiden Armen, ohne sich um die Äste und Steine zu kümmern, mit denen das Wilde Heer ihn traktierte, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben zu nehmen. Plötzlich befanden sich zwei weitere Hände neben ihm, und der Stamm geriet in Bewegung. In diesem Moment war Hagen für Sigfrids Anwesenheit dankbar. Mit vereinten Kräften zogen sie an dem Baum, und es gelang ihnen, den Stamm so weit anzuheben, dass Gislher sich darunter hervorwinden konnte.
Die brennende Eiche knirschte verdächtig. »Weg hier!«, schrie Hagen, packte Gislher unter den Achseln und schleifte ihn aus der Gefahrenzone. Unter schrecklichem Getöse stürzte der entflammte Baum und zerschmetterte die Buche. Das hätte ich sein können, dachte Gislher wie betäubt.
Hagen war halb blind von Erdkrumen, die ihm immer wieder ins Auge flogen. Erbittert verfluchte er seine Behinderung. Andere Menschen kniffen einfach das Auge zu, wenn sie etwas hineinbekamen, und benutzten das andere, bis die Tränenflüssigkeit den Schmutz fortgespült hatte. Wenn er sein Auge schloss, war er handlungsunfähig.
Wodan wühlte die Erde auf, katapultierte Moos, Sand und Lehm durch die Luft und gebärdete sich wie rasend. Die beiden Männer, die seinem Opfer zu Hilfe gekommen waren, schienen ihn noch mehr in Wut zu versetzen. Brüllend ließ er einen Hagel aus Steinen, Dreck und Gehölz auf die Rücken der Krieger niedergehen. Das Wilde Heer brauste unter grimmigem Geschrei durch Bäume und Felsspalten und umtanzte die Fliehenden.
»Bringt Gislher in Sicherheit, ich decke Euren Rückzug«, rief Hagen und wandte sich um. Obwohl eine kalte Hand sein Herz umklammert hielt, trat er mutig dem Asen entgegen. Um Gislher zu schützen, würde er es mit jedem Feind aufnehmen, selbst mit einem Gott.
»Glaubt Ihr, ich werde Euch mit dem Wilden Heer allein lassen?«, schnaubte Sigfrid. Mimung blitzte in seiner Hand.
Hagen wollte etwas erwidern, aber dann lenkte er ein. »Gehen wir gemeinsam«, sagte er.
Wie durch ein Wunder schien Gislher nichts gebrochen zu haben, er humpelte, sich die Tränen verbeißend, voran, während die beiden Männer mit gezogenen Schwertern ihre Flucht sicherten.
Es kam Hagen gar nicht in den Sinn, sich vor Wodan zu fürchten. Was Zorn anbetraf, so konnte er es jederzeit mit dem Obersten der Götter aufnehmen. »Er gehört mir, alter Mann, hörst du?«, schrie er gegen die Amok laufende Natur an. Etwas zischte auf Hagen zu, und ehe er ausweichen konnte, traf ihn ein abgebrochener Ast. Wild hieb er auf die heranfliegenden Gegenstände ein, obwohl er kaum etwas sah.
Sigfrid wehrte die Wurfgeschosse nur halbherzig ab. Sein Herz klopfte hart. Ob Wodan auch jetzt, da er sich gegen ihn stellte, sein Schutzversprechen ihm gegenüber halten würde? Er vergewisserte sich, dass das Amulett um seinen Hals hing, und spürte zu seiner Beruhigung die Macht von ansuz, der Rune des Asen, in seiner Hand.
Ohne Übergang befanden sie sich außerhalb des Waldes. Schlagartig ließ das Unwetter nach, als respektiere Wodan ihren Mut. Vielleicht hatte er auch nur ein lohnenderes Ziel für seinen Zorn entdeckt. In der Ferne preschte das Wilde Heer vorüber. Die dunklen Wolken machten den ersten hellen Flecken am Himmel Platz, die Sonne brach hervor und brachte das Land zum Dampfen. Erschöpft ließen sich die drei Menschen ins Gras fallen.
4.
Axtschläge wiesen Grimhild den Weg. Mit wehenden Haaren stürzte sie in die Baracke, in der die Niflungen das Feuerholz zum Trocknen lagerten. Dort fand sie ihren Lieblingsbruder beim Holzspalten. »Gislher«, rief sie, »ist dir etwas passiert?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fiel sie ihm um den Hals und fing an zu schluchzen.
Gislher hatte sein lebensgefährliches Abenteuer schon halb vergessen. Seine Gedanken kreisten um andere Dinge. Übermorgen, am Abend vor Mittsommer, würde wie alle Jahre das Sonnenwendfeuer entzündet werden, ein Riesenspaß! Jeder musste seinen Teil dazu beitragen, um die