Krähen über Niflungenland. Gunnar Kunz
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Читать онлайн книгу Krähen über Niflungenland - Gunnar Kunz страница 8
Grimhild ließ sich jetzt willig kämmen. Eine andere Frau. Ja, das war nur allzu wahrscheinlich. Sigfrid sah gut aus, war der Sohn eines reichen Königs und besaß ein gewinnendes Wesen. Sie würde aufpassen müssen, wenn sie erst seine Gemahlin war! Gedankenverloren spielte sie mit einer Strähne ihres Haares. Eine andere Frau. Sie erinnerte sich jetzt an seinen verschleierten Blick und die heimwehkranke Stimme während des Festes. Sie hatte angenommen, er vermisse seine Sippe, aber natürlich … Eine andere Frau. Es machte Sinn.
Thiota fiel ihr ein. Die Seherin konnte mehr als nur die Zukunft aus dem Vogelflug lesen und Runenstäbe werfen. Sicher hatte sie eine Lösung für ihren Kummer. Bestimmt wusste sie, was zu tun war! Grimhild lächelte, schloss die Augen und dachte an Sigfrid. Ja, sie wollte ihn! Und sie würde ihn bekommen!
Vergessen, verlieren
1.
Mit einem Fluch machte Grimhild sich Luft und trieb Fála an. Es war ihr nicht gelungen, vor dem Mittag unbemerkt zu entwischen. Sigfrid wollte am nächsten Morgen abreisen, ihr blieb also nicht mehr viel Zeit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Wenn sie den Mut dazu aufbrachte.
Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken an das, was sie zu tun beabsichtigte, aber noch weniger konnte sie es ertragen, Sigfrid fortreiten zu sehen. Bis zu diesem Sommer hatte sie zwar gelegentlich mit dem Gedanken an einen künftigen Gemahl kokettiert, aber das war ein Spiel gewesen, mehr nicht. Mit ihren sechzehn Jahren konnte sie es sich leisten, noch ein, zwei Sommer zu warten, ehe sie sich ernsthaft mit dieser Frage auseinandersetzte. Und dann war Sigfrid gekommen, und jetzt war alles anders. Zornig dachte sie an den Rat ihrer Mutter, sich mit einem anderen zu begnügen, und hieß den Zorn willkommen, denn er lenkte sie von ihrem schlechten Gewissen ab. Niemals würde sie jemandem erlauben, über ihr Leben zu verfügen, weder dem Schicksal noch ihrer Sippe! Es gab Wege für alles.
Mit einem Ruck zügelte Grimhild ihre Stute.
Wie hatte sie nur so in Gedanken sein können! Vor ihr befand sich jenes Gebüsch, dem sie die schlimmste Erfahrung ihres Lebens verdankte. Lähmung erfasste sie, wie jedes Mal, wenn sie sich der Stelle näherte, an der sie vor gut fünf Jahren ihren Vater gefunden hatte. Ein böser Zauber ging davon aus, die dunkle Aura einer Neidingstat. Grimhild unterdrückte die Übelkeit, die in ihr aufsteigen wollte, wandte den Kopf ab und trieb Fála mit einem Schenkeldruck weiter. Die Stute schnaubte, gehorchte aber. Grimhild ließ Fála kräftig ausholen, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und das Gebüsch zu bringen, und wurde erst ruhiger, als der Ort der Bluttat hinter einem Hügel verschwand.
Vor der Hütte der Seherin sprang sie von ihrem Pferd und zögerte, plötzlich unsicher. Tat sie wirklich das Richtige? Bisher hatte sie Thiota nur um harmlose Dinge gebeten, Fragen nach der Zukunft gestellt, nach ihrem künftigen Mann, nach Kindern, Mädchenfragen eben. Dies war etwas anderes. Zum ersten Mal wollte sie sich der Hilfe der Seherin bedienen, um in den Ablauf des Schicksals einzugreifen. Sie wünschte, Frija würde ihr ein Zeichen schicken, ob das Vorhaben ihre Gunst fand. Aber wann hatten die Götter sich je eindeutig geäußert? Nein, sie würde die schwierige Entscheidung allein treffen müssen. Ein Echo von Sigfrids Lachen hallte durch ihren Kopf, und es war ihr Körper, der die Entscheidung traf, nicht ihr Verstand. Grimhild holte Luft und trat ein.
Die Hütte war schmutzig, doch stärker noch als die fauligen Gerüche und der Anblick von Nachlässigkeit war der Eindruck von Macht. Etwas Ungreifbares beseelte den Raum, eine Spannung, das Echo gewaltiger Kräfte.
Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entdeckte sie Thiotas runzlige Gestalt. Sie trug die typische Kleidung einer Seherin, einen zerschlissenen Leibrock aus Schaffell, darüber einen speckigen, ehemals blauen Mantel. Offenbar war sie im Wald gewesen, um Kräuter zu sammeln, denn in ihrem Mantel hatten sich die Widerhaken von Häkelfrüchten verfangen. Grimhild erkannte Kletten und Nelkenwurz und wunderte sich, weshalb ihr Verstand sich mit solchen Nebensächlichkeiten beschäftigte, bis ihr aufging, dass sie sich davor fürchtete, Thiota in die Augen zu sehen.
»Grimhild.«
Ihr Name aus dem zahnlosen Mund der Seherin war Feststellung, Begrüßung und Frage zugleich. Vielleicht auch eine Drohung. Auf dem Weg hierher war Grimhild die selbstbewusste Königstochter einer starken Sippe gewesen, mit Betreten der Hütte hatte sie sich wieder in ein kleines Mädchen verwandelt. »Wodan sei mit dir, Thiota!«, gab sie eingeschüchtert zurück.
Die alte Frau bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Da es, abgesehen von dem hölzernen Hochstuhl für die Zukunftsschau, keine Möbel gab, setzte Grimhild sich auf eines der Schaffelle. Thiota ließ sich ebenfalls nieder. Sie sprach kein Wort, wartete einfach ab und sah sie dabei unentwegt an, als wolle sie auf den Grund ihrer Seele blicken, bis Grimhild, um dieser Tortur ein Ende zu bereiten, herausplatzte: »Ich brauche einen Zauber.«
Die Schweigsamkeit der Seherin ärgerte sie. Die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Bei ihrem Aufbruch hatte sie sich vorgenommen, Thiotas Fragen ausweichend zu beantworten und nichts preiszugeben, was ihr zum Nachteil gereichen konnte, da die alte Frau aber keine Fragen stellte, sondern sie nur ansah, sprangen die Worte von selbst aus ihrem Mund: »Wir haben einen Krieger zu Gast, und … und … ich will ihn.«
Thiota sagte immer noch nichts. Unbarmherzig hielt sie ihren stechenden Blick auf sie gerichtet, bis Grimhild die Augen niederschlug. Das Schweigen der Seherin enthielt die Gewissheit, dass die Niflunge über kurz oder lang die albernen Versuche aufgeben würde, etwas vor ihr zu verbergen.
»Er liebt eine andere Frau«, sagte Grimhild leise. »Glaube ich.«
»Einen Trank, der ihn in dich verliebt und die andere vergessen macht – ist es das, was du von mir willst?«
Grimhild nickte beklommen, über ihren eigenen Mut erschrocken. Bis eben war alles nur ein Hirngespinst gewesen, eine Möglichkeit. Indem sie ihren Wunsch aussprach, verwandelte sie diese Möglichkeit in Wirklichkeit. Die Macht der Worte war groß, niemand konnte sie zurücknehmen. Für einen flüchtigen Augenblick fragte sie sich, ob sie nicht dabei war, einen Fehler zu begehen, aber sie wischte diesen Gedanken beiseite.
»Du weißt, was du tust.«
Wie konnte ein Satz, der als Feststellung ausgesprochen wurde, ihr derart das Gefühl vermitteln, dass ihre Urteilsfähigkeit in Zweifel gezogen wurde? Grimhild bemühte sich um Festigkeit in ihrer Stimme. »Ja.« Und um der Alten zu beweisen, dass sie imstande war, die Konsequenzen zu übersehen, zählte sie auf: »Ich nehme Einfluss auf einen Menschen. Ich zerreiße ein vorhandenes Muster. Ich verändere das Schicksal.«
»Du spielst ein Spiel mit hohem Einsatz. Aber das Gewebe der Nornen veränderst du nicht. Du wirst tun, was gewebt ist.« Thiotas Augen waren abwesend, als bereite sie in Gedanken bereits den Trank zu, doch dann heftete sich ihr Blick wieder auf ihre Besucherin. »Bedenke deinen Wunsch! Es liegt kein Heil darin, die Zukunft beherrschen zu wollen.«
Gereizt zog Grimhild die Nase kraus. Dies waren die üblichen Ermahnungen, die jeder meinte, ihr gegenüber vorbringen zu müssen. Wann begriffen die Menschen endlich, dass sie erwachsen war und für sich selbst entscheiden konnte?
Thiota beugte sich vor und zwang sie, ihrem Blick standzuhalten. »Gebrochene Versprechen«, sagte sie und bohrte ihren Zeigefinger unterhalb des Schlüsselbeins in die Haut der jungen Frau. »Gebrochene Versprechen leugnen, was war, leugnen, was sein wird. Gebrochene Versprechen besitzen einen starken Zauber. Gebrochene Versprechen sind voller Leid.«