Krähen über Niflungenland. Gunnar Kunz

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Krähen über Niflungenland - Gunnar Kunz

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du überleben? Dann solltest du dich nicht von eingefahrenen Verhaltensweisen beherrschen lassen. Wenn du auf einen unterlegenen Mann triffst, genügt Erfahrung, im Kampf gegen einen Schwertmeister liegt deine einzige Hoffnung in der Überraschung.«

      Das Tor des Wehrzauns, der die Häuser der Niflungen umschloss, öffnete sich. Gunter kam heraus. Er hatte die Schwertschläge vernommen und wollte in Erfahrung bringen, welche Fortschritte Gislher machte. Aus den Augenwinkeln musterte er Gernholt, seinen anderen Bruder, der gegen die Pfahlwand lehnte und Hagens Technik studierte. Gernholt hatte offenbar einen guten Tag erwischt, sein Gesicht zeigte Farbe, und er nahm seine Umwelt mit wachem Interesse wahr. »Wie macht er sich?«, fragte Gunter, während er sich neben ihm niederließ.

      »Das Übliche. Er kämpft kraftvoll und mutig, aber er ist zu ungeduldig und vernachlässigt die Verteidigung.«

      Gislher hatte einen schweren Stand gegen seinen Lehrmeister; das frustrierte ihn und machte ihn wütend, wodurch er seine Schläge immer unpräziser ausführte.

      »Konzentriere dich!«, befahl Hagen und hieb nach der Hüfte des Jungen. Gislher schützte sich mit dem Schild und schlug seinerseits zu. Mühelos blockte der Waffenmeister den Schlag ab und zielte erneut auf die Hüfte. Unmerklich zwang er seinem Gegner einen Rhythmus auf: Schlagen – Senken des Schildes – Schlagen. »Denk an meine Worte«, sagte er, »eingefahrene Verhaltensweisen sind dein Tod.«

      Erst als sein Lehrer das Schwert nach oben riss, als wolle er ihm den Schädel spalten, während er selbst seinen Schild wieder gesenkt hatte, begriff Gislher, worauf der Waffenmeister hinauswollte. Verzweifelt riss er den Schild nach oben, um den Hieb abzufangen. Seine Bewegung war von Panik diktiert, deshalb nahm er sich für den Bruchteil eines Herzschlages die Sicht. Als er seinen Fehler erkannte, als ihm klar wurde, dass Hagen, der listenreiche Taktiker, eine Finte in einer Finte versteckt hatte, war es zu spät. Hagens Schwert beschrieb eine Kurve und bremste knapp vor dem ungeschützten Bauch des Jungen. »Lass dir niemals von einem Feind eine Kampfweise aufzwingen!«

      Gislher gab sich geschlagen. »So gut wie du werde ich nie im Leben«, sagte er. »Vielleicht sollte ich lieber Felder bestellen.«

      »Ein solcher Gedanke ist deiner unwürdig.«

      »Ach, Hagen, sei nicht immer so ernst! Es war doch bloß ein Scherz.«

      Sie steckten die Schwerter ein und gingen zu den Zuschauern hinüber.

      »Gut gemacht, alter Kämpe!« Gunter gab dem Waffenmeister einen freundschaftlichen Hieb auf die Schulter. »Und du wirst auch immer besser, Gislher.«

      Wie Aldrians Söhne so beieinander standen, wurde ihre Verschiedenartigkeit deutlich. Die drei Brüder hätten ungleicher nicht sein können. Gislher war von heiterer, ungestümer Natur, und seine Hände und Füße standen keinen Augenblick still. Gunter war das genaue Gegenteil, nachdenklich, zögernd. Trotz der kräftigen Statur verlieh ihm sein grüblerisches Wesen eine Unscheinbarkeit, die so gar nicht der Vorstellung entsprach, die man sich von einem König machte. Gernholt passte überhaupt nicht zwischen die beiden, nicht nur, weil sein kurz geschnittenes Haar, die Bartlosigkeit und die Form seiner Nase ihm ein römisches Aussehen verliehen, was er noch dadurch unterstrich, dass er sich bevorzugt in tunikaartige Hemdröcke kleidete, sondern mehr noch durch sein abweisendes Verhalten.

      Gernholt war vierzehn gewesen, als er verkrüppelt wurde. Bei einem der Kämpfe um den Besitz von Niflungenland hatte er seinen Schwertarm verloren und zu allem Unglück auch noch eine Verletzung am linken Bein davongetragen. Seitdem hinkte er. Mit eisernem Willen hatte er gelernt, das Schwert mit der linken Hand zu führen, aber das war doppelt schwer, wenn einen das Bein, das dabei das meiste Gewicht tragen musste, im Stich ließ. Die Verkrüppelung hatte ihn launisch gemacht. Man konnte nie vorhersagen, in welcher Stimmung er sich gerade befand. Die meisten Menschen gingen ihm deshalb aus dem Weg, was ihm durchaus recht war. Es gab Zeiten, da konnte er keine Gesellschaft ertragen. Am allerwenigsten die eigene.

      Die Auswertung der Waffenübung wurde durch die Ankunft zweier Reiter unterbrochen, die langsam über die Viehweide geritten kamen. Anführer schien ein kaum achtzehnjähriger Jüngling zu sein, der einen auffälligen Fuchsschecken ritt. Auf den ersten Blick konnte man sehen, dass er großes Heil besaß. Alles an ihm drückte Selbstbewusstsein aus, das Selbstbewusstsein eines Mannes, dem nichts fehlschlug. Sein untersetzter Begleiter machte den Eindruck, dass er den Annehmlichkeiten des Lebens nicht abgeneigt war, doch die niemals stillstehenden Augen legten ein beredtes Zeugnis seiner Wachsamkeit ab.

      Vor den Niflungen zügelten die Reiter ihre Pferde und sprangen ab. Sie waren staubig von der Reise, aber gut gekleidet. Der Blonde hob den Arm zu einem Gruß. »År ok friðr!«, sagte er mit nordischem Akzent. »Jungherr Sigfrid von Tarlungenland und sein Gefolgsmann Eckewart bitten um Eure Gastfreundschaft.«

      Die Brüder sahen sich an, nur Hagen hatte sich so weit unter Kontrolle, dass bis auf ein Zucken seiner Wangenmuskeln nichts die Gefühle verriet, die der Name in ihm hervorrief. Natürlich kannten sie den Sachsen. Die Geschichte von seinem Kampf mit dem Drachen war Gesprächsstoff von Wilzenland bis Hesbanien, von der Heimat der Nordmänner bis zu den Überresten des Römischen Reiches. Neugierig musterten sie den Mann, dessen Taten sie so oft in den Liedern der Skopen gehört hatten.

      Sigfrids Haut war dunkel und verhornt, aber sein Gemüt so sonnig wie das blond gelockte Haar, das ihm in den Nacken fiel. Er trug ein weißes Leinenhemd und Hosen, die an den Waden mit Lederriemen umwickelt waren. An seinem Gürtel hing ein zweischneidiges Langschwert, vermutlich das viel besungene Mimung. Obwohl sein Körper durchtrainiert und in zahllosen Schlachten gestählt war, fehlte ihm die ständige Alarmbereitschaft, die kampferprobten Kriegern eigen war. Das hervorstechendste Merkmal war jedoch sein gewinnendes Lachen. Es fiel schwer, ihn nicht auf Anhieb zu mögen.

      Die Sachsen ihrerseits nahmen unterdessen die Niflungen in Augenschein. Eckewarts Aufmerksamkeit galt vor allem dem Einäugigen. Ob es zutraf, was man sich erzählte? Dass der Waffenmeister zur Hälfte ein Schwarzalbe war? Er hätte ihn gern danach gefragt, aber ein Blick in das grimmige Gesicht belehrte ihn, dass es vermutlich gesünder war, dies zu unterlassen.

      Hagen konnte die Gedanken des Dicken lesen wie das Runen-Futhark und spürte, wie sich der altbekannte Zorn in seinem Magen sammelte. Stellt die Frage, schrie es in ihm, und ich werde sie Euch mit meinem Schwert beantworten! Aber der Sachse schien zu spüren, was gut für ihn war, und wandte den Blick ab.

      Gunter hieß die Gäste willkommen und führte sie in das Innere des Wehrzauns.

      Das ehemalige Kastell Tolbiacum war den Bedürfnissen der Rheinfranken angepasst worden. Beackerte Felder und Viehweiden breiteten sich innerhalb der Festungsmauern aus, das impluvium eines Hauses, das einst einem reichen Bürger Roms gehört hatte, diente nun als Viehtränke. Von der Pracht römischer Baukunst war nicht viel geblieben, obwohl König Aldrian sich Mühe gegeben hatte, einige Ruinen instand zu setzen.

      Sigfrid war beeindruckt, dass die Niflungen in steinernen Häusern wohnten, aber es kam ihm auch unnatürlich vor. Im Stein zu leben war etwas für Wölfe und Schwarzalben. Der Ort selbst allerdings war gut gewählt. Mit dem Blick des Kriegers hatte Sigfrid schon während sie sich Tolbiacum näherten die strategisch günstige Lage des vicus im Kreuzungspunkt der alten römischen Fernstraßen erkannt. Und nicht nur der taktische Aspekt kennzeichnete die kluge Wahl, auch die Fruchtbarkeit des Bodens war nicht zu übersehen. Die Macht der Erde war stark im Land der Niflungen.

      Ivo, der Stallbursche, kam herbeigeeilt und nahm die Pferde in seine Obhut. Er war ein schmutziger Junge mit vorstehenden Zähnen, aber es gab niemanden weit und breit, der größeres Heil im Umgang mit Tieren besaß. Die Pferde schienen es zu spüren und ließen sich willig von ihm in den Stall

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