Krähen über Niflungenland. Gunnar Kunz
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Читать онлайн книгу Krähen über Niflungenland - Gunnar Kunz страница 15
Die Bevölkerung von Tolbiacum schien zusammengekommen, jedenfalls, soweit sie nicht christlich war. Selbst von denen, die Christus für mächtiger als Wodan hielten und sich im Namen des gekreuzigten Gottes hatten taufen lassen, ließen es sich viele nicht nehmen, bei diesem Fest dabei zu sein, so sehr die Priester auch dagegen wetterten. Mittsommer war ein Höhepunkt des Jahres, und es konnte nicht schaden, die Sonne im Zenit ihres Laufs zu stärken.
Mit Bedauern stellte Grimhild fest, dass die Aufregung des Sonnenwendfestes sie nicht wie früher fesselte. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie der Feier ebenso entgegengefiebert wie alle. Jetzt überlagerte eine Aufregung anderer Art ihre Gefühle. Wenn Sigfrid nur endlich kommen würde!
Nach wie vor strömten Menschen den Hügel hinauf. Auch einige Nachbarn waren gekommen, um das Fest gemeinsam mit den Niflungen zu begehen. Grimhild erkannte Rodinger von Bakalar, einen Gefolgsmann König Attalas, mit seiner Sippe und eilte zu ihnen, um sie zu begrüßen.
Rodinger war ein unscheinbarer Mann, der in der Menge breitschultriger Krieger leicht unterging, doch wenn man ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, konnte man eine innere Stärke spüren. Und sobald man seine sanfte Stimme hörte, um die ihn mancher Skop beneidete, musste man vollends für ihn eingenommen sein.
»Frouwa Grimhild! Euer Lächeln ist eine weitaus größere Unterstützung für die Sonne als jedes Sonnenwendfeuer.«
Und wortgewandt war er, erinnerte sich Grimhild. »Ich grüße Euch, frō Rodinger!«
»Ihr seid eine Frau geworden, seit ich Euch zuletzt sah«, stellte er fest.
In gespielter Schamhaftigkeit senkte sie die Lider.
Etwas abseits stand Oda mit Rodingers Gemahlin Gudelinde, einer gutmütigen Frau, die zu Fülligkeit neigte, und deren achtjähriger Tochter Dietlind, die über und über mit Sommersprossen bedeckt war. Sie hatte den Hang ihrer Mutter zu Rundlichkeit geerbt, war aber nichtsdestoweniger ein hübsches Mädchen. Über die Entfernung hinweg warfen Gudelinde und ihr Mann sich manch vertrauten Blick zu, ein stummer Ausdruck von Zuneigung, der Grimhild ans Herz ging. Sie und Sigfrid würden sich auch immer so ansehen, da war sie sicher.
Ihre Brüder kamen mit Hagen den Hügel hinauf. Grimhild reckte den Kopf. Zu ihrer Enttäuschung war Sigfrid nicht bei ihnen. Ob Gislher schon mit Gunter gesprochen hatte?
Gislher plapperte in einem fort. An diesem Morgen hatte er seine Waffenübungen mit Sigfrid abgehalten. Seit der Sachse ihn vor Wodans Wut gerettet hatte, vergötterte er ihn geradezu und kam gar nicht auf den Gedanken, dass sein Verhalten Hagen kränken könnte. Im Gegenteil, stolz berichtete er ihm von den Fortschritten, die er machte. Und Hagen, der war, der er war, behielt seine unergründliche Miene und schwieg.
»Ich wünschte, ich hätte auch so ein Schwert wie Sigfrid«, sagte Gislher. »Mit einem solchen Schwert wäre ich unbesiegbar.«
»Mut ist entscheidender als ein gutes Schwert«, widersprach Hagen. »Manch kühnen Mann sah ich den Kampf gewinnen mit stumpfer Klinge, während Feiglinge trotz eines guten Schwertes unterlagen.«
»Am besten ist es, beides zu besitzen, ein gutes Schwert und Tapferkeit. Wie Sigfrid. Volker kann mehr Heldentaten von ihm besingen, als man zu zählen vermag.«
»Es ist keine Kunst, tapfer zu sein, wenn man unverwundbar ist.«
In diesem Moment kam der pluostrari, der Priester, der die Opfer darbrachte, mit einer Fackel den Hügel herauf. Am Nachmittag war in Tolbiacum das Herdfeuer gelöscht worden. Die Bewohner des Ortes hatten sich versammelt und gemeinschaftlich mithilfe gegeneinander geriebener Holzstäbe eine neue Flamme ins Leben gerufen und dadurch Segen in Ställe und Häuser gebracht. Jetzt trug der Priester das frische Feuer den Hügel herauf und stimmte einen Gesang an. Nach und nach fielen die Umstehenden ein. Es war ein ausgelassener Gesang, eine Hymne an die Sonne, die eben im Begriff stand unterzugehen.
Ein Ochse wurde gebracht. Vier Männer hielten das sich sträubende Tier fest. Der Priester hängte ihm, immer noch singend, einen Kranz aus Wolfsblumen um den Hals, die wegen ihrer sonnenähnlichen Gestalt ausgewählt wurden. Im letzten Licht des Tages reichte er Gunter die Fackel, zog einen heiligen Dolch und steigerte seinen Gesang zu einem ekstatischen Höhepunkt. Der Ochse wurde unruhig, er spürte die Gefahr. Abrupt brach der Gesang ab. Mit einer fachgerechten Bewegung schnitt der pluostrari dem Opfertier die Kehle durch. Der Ochse wehrte sich und versuchte zu brüllen, doch der Tod war schneller. Blut tränkte den Boden. Feierlich nahm der Priester die Fackel aus Gunters Händen und entzündete die errichteten Scheiterhaufen. Einige Männer waren schon dabei, den toten Ochsen zu zerteilen, um das Fleisch im Feuer zu rösten.
Ansgar feixte, als Volker sich neben ihn setzte. »Hast du den Priester gehört? Das war doch wenigstens mal ein Gesang! Davon könnte sich mancher Sänger eine Scheibe abschneiden.«
»Ein guter Sänger ist er wohl. Aber hast du gesehen? Er schneidet seinen sachverständigsten Zuhörern die Kehle durch.«
Oda hatte sich derweil zu Gunter begeben. »Es tut mir leid, wenn ich dich am heutigen Abend mit Reichsangelegenheiten behellige, aber ich wollte mit dir über etwas reden.«
Der Niflunge nickte. Ein König war immer ein König. Für ihn gab es keinen Augenblick, in dem er nur er selbst sein konnte. Im Übrigen hatte er festgestellt, dass die Ratschläge seiner Mutter oft von Wert waren.
»Ich habe über Sigfrid nachgedacht. Er wäre ein guter Mann für Grimhild, glaube ich.«
Seine Mutter ebenfalls? Gislher hatte schon den halben Vormittag mit ihm über dieses Thema sprechen wollen. Nachdenklich wanderte Gunters Blick zu seiner Schwester.
Die versuchte vergeblich, ein Wort von dem zu erraten, was gesprochen wurde. Wenn sie doch nur selbst etwas tun könnte! War es wirklich genug, wenn Gislher und ihre Mutter mit Gunter redeten? Vielleicht genügten zwei Fürsprecher nicht! Grimhild machte sich auf die Suche nach ihrem dritten Bruder.
Im flackernden Schein der Feuer entdeckte sie Gernholt und blieb unschlüssig stehen. Ob sie Erfolg haben würde, hing davon ab, in welcher Stimmung er sich befand. Seit seiner Verkrüppelung pendelte er zwischen Unruhe und Teilnahmslosigkeit. Es gab Augenblicke, in denen er die Welt erobern wollte, dann war er nicht zu bremsen. In solchen Momenten konnte er fröhlich und ausgelassen und sogar komisch sein. Zu anderen Zeiten jedoch kam er sich unnütz vor und empfand sich als Last für die anderen. Dann sprach er oft vom Tod und gab sich düsteren Gedanken hin. Das war vor allem bei feuchtem Wetter der Fall, wenn sein Armstumpf und die Narben an seinem Bein schmerzten. Meist betäubte er sich dann mit einem Sud aus Bilsenkraut.
Sie hatte Pech. Es war feucht, und Gernholt hatte bilisa zu sich genommen. Angewidert verzog Grimhild die Nase. Nach dem Trocknen roch die Pflanze zwar nur noch schwach, aber sie hasste das Kraut. Es verschaffte ihrem Bruder Linderung, aber es trennte ihn auch von der Welt. Für sie waren der Geruch und Gernholts verbitterter Zustand untrennbar miteinander verbunden. Prüfend sah sie ihn von der Seite an. Seine Augen waren glasig, aber sein Verstand schien nichtsdestoweniger in Ordnung. Sie gab sich einen Ruck und setzte sich zu ihm.
»Meine Schwester«, begrüßte er sie schwerfällig, »was willst du denn von einem Krüppel wie mir?«
Grimhild hasste es, wenn er sich so bezeichnete. »Ich wollte dich um deine Hilfe bitten«, sagte sie. So wenig er es ertragen konnte, wenn andere