Er war mein Urgroßvater. Christiane Scholler
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Wie heißt es so schön? Im Wissen um die Vergangenheit können wir uns getrost der Zukunft stellen. Allen Leserinnen und Lesern darf ich daher nun viel Freude bei der Lektüre und bei der Entdeckung des „anderen“ Thronfolgers wünschen.
Willkommen im Schloss!
Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie sind im Begriff, mit mir eine Zeitreise zu beginnen. Nicht im herkömmlichen Sinne, wie wir dies aus den Geschichtsbüchern unserer Schulzeit gewohnt sind. Und mit Sicherheit auch in etwas anderer Form, als Sie nun vielleicht erwarten würden, wenn es darum geht, Ihr Wissen um Erzherzog Franz Ferdinands Leben ein wenig zu erweitern.
Im Zeitalter von Internet, Wikipedia, Smartphones und Tablet-PCs haben Sie heute jede gewünschte Information in Sekundenschnelle per Mausklick zur Verfügung. Genau das ist aber der Haken dabei: Alleine beim Suchbegriff „Thronfolger Franz Ferdinand“ stoßen Sie bei der Suchmaschine Google auf über 50.000 Eintragungen. Das „Attentat von Sarajevo“ ergibt rund 250.000 Treffer, die Suche nach dem Schloss Artstetten bringt an die 125.000 Ergebnisse. Was also tun mit einer Fülle von Informationen, wenn Sie ein Thema zwar interessiert, Sie aber in möglichst kurzer Zeit über das Wichtigste ganz gezielt informiert werden wollen?
Je persönlicher, desto besser, lautet mein Motto. Deshalb bekommen Sie mit diesem Buch eine Geschichtslektüre der anderen Art in die Hand. Einen Reiseführer in die glanzvolle Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende, aber mit den Augen eines Familienmitgliedes betrachtet. Eine Anleitung zum Miterleben und Mitfühlen, denn die folgeschweren Ereignisse nach der Ermordung des Thronfolgers, meines Urgroßvaters, im Juni 1914 haben nicht nur im Großen die Neuordnung Europas heraufbeschworen, sondern auch im Kleinen das Schicksal der zurückgelassenen Kinder und deren Nachfolger nachhaltig beeinflusst.
Als Urenkelin Franz Ferdinands fühle ich mich dazu berufen, das Andenken an diesen ungewöhnlichen Mann und seine Familie nicht nur zu bewahren, sondern lebendig vor Augen zu führen. Vielleicht kommen Sie auch einmal ins Schloss Artstetten: Dann wird der Besuch des Hauses für Sie bestimmt mehr als ein bloßer Rundgang durch schöne Räume mit alten Bildern und liebevoll zusammengestellten Exponaten. Schon der erste Blick auf das markante Gebäude in herrlicher Lage nahe der Donau, mit seinen charakteristischen Zwiebeltürmen und dem historischen Schlosspark, lässt uns gedanklich noch einmal die längst vergangene Geschichte Revue passieren.
Beginnend mit einem fiktiven Brief an meinen Urgroßvater, Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este, möchte ich mich nun gemeinsam mit Ihnen auf die Spurensuche in die Vergangenheit begeben – um Familienhistorie, Schlossgeschichte und kleine Geheimnisse mit Ihnen persönlich zu teilen. Darauf freut sich
Erzherzog Franz Ferdinand, 30-jährig und bereits General der Kavallerie
Lieber Urgroßvater Franz Ferdinand,
ich durfte Dich niemals kennenlernen, und dennoch bist Du mir im Laufe der Jahre so vertraut geworden, als hätten wir bereits viel Zeit miteinander verbracht. Was ich über Dich weiß, ergibt ein Bild von einem Mann, der sehr gut auch in der heutigen Zeit gelebt haben könnte.
Vorausplaner und Querdenker, konsequenter Stratege und unbeugsamer Charakter: Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort. Nicht nur betreffend Sarajevo, sondern auch in Bezug auf das Jahrhundert, in dem Du gelebt hast.
Dein tragisches Schicksal bedeutete zugleich das Ende einer glanzvollen Ära, den Anfang einer neuen Zeit, in der Du Dich aber bestimmt ohne Probleme zurechtgefunden hättest.
Mit jedem Bild von Dir und Deiner Familie, das ich in unserem Schloss betrachte, fallen mir unendlich viele wahre Geschichten ein, die ein beredtes Zeugnis geben …
… zum Beispiel vom „verhinderten Herrscher“, der mit Offenheit gegenüber modernen Errungenschaften, gleichzeitig aber auch mit dem der damaligen Zeit entsprechenden monarchischen Sendungsbewusstsein zu verstehen war. Deine menschlich herausragendste Eigenschaft war die Liebe zur Familie, zu Deiner Sophie und zu den Kindern. Zu Hause warst Du ungezwungen und fröhlich, in klarem Gegensatz zu Deinem bekannten Auftreten als zeitweise schroffer, direkter und eher herrisch wirkender Mann.
Wie war es denn nun wirklich, Dein Leben? Auf den ersten Blick ein paar spontane Gedanken.
Die unbeschwerte Kindheit ist zum Glück unbestritten. Die vom Einfluss des Kaiserhauses geprägte Jugend, die schwere Erkrankung und fast einjährige Weltreise, Deine geheimnisvolle Verbindung zu Sophie und der Kampf um Eure Liebe, die Hochzeit und das glückliche Familienleben sind legendär. Trotz zahlreicher offizieller Verpflichtungen konntest Du mit Deiner großen Sammelfreude zahllose Kulturgüter retten und durch Deine Jagdleidenschaft sogar den besten Schützen Indiens im Wettschießen besiegen. Ein gutes Gefühl für Raumplanung und ein modernes Gespür für Technik, aber auch die bewusste Förderung und Modernisierung der Marine oder Deine der damaligen Zeit weit vorausgehenden politischen Ideen ergeben das Bild eines außergewöhnlichen Menschen.
Immer in Bewegung sein, niemals die Hände in den Schoß legen – das war ein selbstverständliches Lebensmotto. Offen sein für Neues, aber Bewährtes erhalten. Konservativ bleiben, wo es Erziehung, Religion und Anstand erfordern – aber gleichzeitig Unbekanntes erforschen, Unbequemes wagen, Unpopuläres durchsetzen. Das könnte auch das Bild eines modernen Managers sein! Und genau das ist es auch, was Deine Faszination noch heute ausmacht. Du wirst nie vergessen sein, aber nicht nur wegen der Schüsse in Sarajevo. Du hast vorgelebt, dass man zu seinen Ideen und Vorstellungen stehen muss. Dass es sich auszahlt, für das zu kämpfen, was einem im Leben wirklich wichtig ist. Und dass der bequemste Weg nicht immer jener ist, der uns zum Ziel führt.
In diesem Sinne lasse ich Dich jetzt sozusagen zu Wort kommen und vor unserem geistigen Auge nochmals Gestalt annehmen. Die zahlreichen Briefe, Aufzeichnungen, Urkunden und authentischen Berichte aus Deiner Zeit – und auch von Dir selbst – erlauben mir, als Deine Urenkelin, eine sehr genaue Vorstellung davon, was Dir wohl durch den Kopf gegangen sein mag. Zum Beispiel an jenem verhängnisvollen Sommertag im Juni 1914 …
Das Attentat
»Wir haben bereits 14 Minuten Verspätung, und ich beginne langsam, ungeduldig zu werden … Wozu haben wir einen Hof-Sonderzug, wenn wir den Zeitplan ohnedies nicht einhalten können? Wir hätten Bad Ilidza ohne Weiteres pünktlich verlassen können. Dort vorne ist endlich unser Ziel. 10.07 Uhr, wir sind vor der Kaserne. Ich sehe, unsere Wagen warten bereits. Das Umsteigen wird also hoffentlich rasch vonstatten gehen.«
So oder so ähnlich könnten die Gedanken meines Urgroßvaters, des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este, gewesen sein. Er ahnt zu diesem Zeitpunkt am 28. Juni 1914 nicht, dass die letzten Minuten seines Lebens bevorstehen. Er beginnt sie, indem er jenes Fahrzeug im Wagenkonvoi besteigt, das ihn in den Tod führen wird.
Juni 1914: Der sichtlich mit dem Manöververlauf zufriedene Erzherzog Franz Ferdinand zeigt