Er war mein Urgroßvater. Christiane Scholler

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Er war mein Urgroßvater - Christiane Scholler

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verlierend, geflüstert haben: »Es ist nichts.« Auch diese Worte mögen vielleicht durch Lippenbewegungen angedeutet worden sein, ein hörbares Sprechen war mit der tödlichen Verletzung kaum noch möglich.

      Meine Urgroßeltern verbluten innerhalb kürzester Zeit. Obwohl der Fahrer sofort reagiert und innerhalb von zwei Minuten beim Sitz des Landeschefs eintrifft, um dort die Erstversorgung in die Wege zu leiten, kommt jede ärztliche Hilfe zu spät. Die beiden leblosen Körper werden über die Treppe in den Konak hineingetragen, wo die Ärzte um 11.00 Uhr nur noch den Tod feststellen können. Die im Protokoll nüchtern festgehaltenen Todesursachen lauten: inneres Verbluten durch Eindringen eines 9-mm-Projektils in den Unterleib – in die Bauchaorta – der Herzogin von Hohenberg; Durchschlagen der Halsschlagader und der Luftröhre des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este. Wenig später wird die Aufbahrung der Verstorbenen veranlasst, kurz nach 11.00 Uhr sind bereits die ersten Totenglocken aus der katholischen Kathedrale zu hören.

       Kurz nach dem Attentat spielten sich tumultartige Szenen ab.

      Eine Verkettung unglückseliger und zum Teil auch mysteriöser Umstände führte zum alles entscheidenden, tödlichen Zwischenfall. Es gab und gibt bis heute eine Unzahl an Mutmaßungen, warum an jenem Schicksalstag das Fahrzeug des Thronfolgers genau vor die Mündung des Attentäters geriet. Oder geraten musste?

      Fast unheimlich mutet es an, wenn man Vernehmungsprotokolle der Augenzeugen liest und sich des Eindruckes nicht erwehren kann, dass der Doppelmord leicht hätte verhindert werden können. Und dass ein Attentäter am Werk war, der weder als Soldat noch als Waffennarr bezeichnet werden kann. Der jedoch eine so tödliche Präzision an den Tag legte, wie sie selbst ein geübter Scharfschütze kaum zuwege gebracht hätte.

       Der Bombenwerfer Nedeljko Čabrinović (+) wird von der Polizei abgeführt.

       Die Mordwaffe: eine FN Browning 9 mm, Modell 1910

      Es gibt zahlreiche, sehr genaue Augenzeugenberichte, die sich in vielen wichtigen Details decken. Zum Beispiel bezüglich der Tatsache, dass Gavrilo Princip nicht gezielt geschossen hat. Im ersten Moment wollte er eigentlich eine Bombe werfen, die er am Gürtel befestigt hatte. Weil es aber galt, rasch zu handeln, zog der Bursche statt- dessen seinen Revolver, wendete (nach eigener Aussage) dabei sogar den Kopf vom Fahrzeug ab und schoss in einem Winkel von 45 Grad blindlings zweimal drauflos.

      Wenn man das Originalfahrzeug im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien genau betrachtet, bestätigt sich diese Angabe. Die Einschussöffnung ist rechts hinten, ungefähr dort, wo das Scharnier für das Verdeck verankert ist. Die Austrittsöffnung im Fahrzeug innen, in der Lederpolsterung, ist 10 cm weiter links. Die Richtung dieses Lochs bildet zum Einschuss einen Winkel von 45 Grad. Das Eisenblech der Verkleidung wurde vom Projektil in einem Ausmaß von 15 mm eingedrückt, der Schusskanal misst 10 mm im Durchmesser. Ein Loch von dieser Ausdehnung ist auch auf der Innenseite des Leders zu erkennen, an jener Stelle, an der Herzogin Sophie tödlich getroffen wurde.

       Gavrilo Princip, Mörder des Thronfolgers und von Herzogin Sophie – ein 18-jähriger Maturant

      Und dann? Bekannterweise gibt es einen Rückstoß, wenn ein Revolver beim Schuss mit nur einer Hand gehalten wird. Dieser Rückstoß reißt den Lauf der Waffe nach oben. Wenn in diesem Augenblick also noch einmal geschossen wird, muss das zweite Projektil zwangsläufig um einiges höher treffen als das erste. Genau so muss es gewesen sein. Der klein gewachsene Princip schießt nun also »hinauf« und trifft durch diesen weiteren tödlichen Zufall genau die Halsschlagader des Thronfolgers. Selbst mit modernen Waffen und Scharfschützen-Ausbildung wäre es heute fast unmöglich, in drei Sekunden eine solche Tat mit derart tödlicher Präzision auszuführen.

      Wenn ich nun also versuche, die letzten Stunden im Leben meiner Vorfahren nachzuvollziehen, so komme ich nicht umhin, festzustellen: Urgroßvater, Du hättest abreisen, auf Deine Berater hören und Dein Pflichtbewusstsein einmal vergessen sollen. Aber Deine Haltung ist wohl dem damaligen Sendungsbewusstsein entsprungen. So etwas wie einen Rückzieher machen, das hat nie Deiner Art entsprochen. Todesbereitschaft, Wagemut und Opferbereitschaft waren für einen Mann wie Dich, mit Deiner militärischen Erziehung und im Zusammenhang mit dem damaligen Zeitgeist, wohl selbstverständlich. Du hättest noch ein langes und erfülltes Leben vor Dir gehabt. Und der Lauf der Weltgeschichte hätte sich entscheidend anders entwickelt.

       Die aufgebahrten Särge in der Gruft von Artstetten (dazwischen der Sarg des 1908 tot geborenen Sohnes)

       Titelblatt der »Illustrierte Kronen Zeitung« vom 30. Juni 1914

      Wer Schloss Artstetten zum ersten Mal besucht, kann sich dem Zauber der harmonisch angeordneten Räume und der Romantik des Landschaftsparks kaum entziehen. Spätestens aber nach dem Verweilen im Innenhof und dem bewussten Nachempfinden der dramatischen Ereignisse jenes 28. Juni 1914 drängt sich die Frage auf: Wo ist der Anfang jener Spirale, die sich im Leben meiner Urgroßeltern plötzlich immer schneller drehte, ohne dass es diejenigen, die davon betroffen waren, bemerken konnten? Wo und wie hat das Leben jenes Mannes begonnen, dessen Name so untrennbar mit dem Attentat von Sarajevo und in letzter Konsequenz mit der Neuordnung Europas verbunden ist?

      Der gedankliche Übergang vom gemeinsamen Sterben des Thronfolgers und der Herzogin von Hohenberg – zurück zur glücklichen Kindheit, hinein in die große Familie und Verwandtschaft – gelingt am besten mit einem kurzen Innehalten. Aus diesem Grund haben wir im Schloss den »schwarzen Raum« geschaffen. Bevor man einer Fülle von Exponaten, Bildern, Fotos und Einrichtungsgegenständen aus der damaligen Zeit gegenübersteht, erblickt man in dieser »Zeitschleuse« nur das weiße Gipsrelief des Paares. Hier wird noch einmal deutlich, dass zwei einander von Herzen zugetane Menschen plötzlich sterben mussten. Ohne die Gnade eines gemeinsamen, besinnlichen Alterns; ohne die Freude, die drei geliebten Kinder heranwachsen sehen zu dürfen; ohne das Vergnügen, Enkelkinder haben zu können.

      Das Tröstliche ist, dass wenigstens der gemeinsame Todeszeitpunkt, wenn auch viel zu früh, den jeweils anderen nicht hat leiden lassen. Der Erzherzog, mein Urgroßvater, wusste, dass eine der Folgen seiner Hochzeit mit einer nicht ganz »Ebenbürtigen« auch sein würde, dass sie nicht gemeinsam an der für Mitglieder des Erzhauses vorgesehenen Stelle bestattet werden könnten: in der Kapuzinergruft. Da waren die Hausgesetze der Habsburger kompromisslos.

      Also sorgte Franz Ferdinand bereits zu Lebzeiten rechtzeitig vor und ließ für sich und seine Familie eine eigene Gruft in Schloss Artstetten errichten. Den Schlüssel zu ihr kann man an der Kasse unseres Museums-Shops ausleihen. Ein paar Schritte um das Haus, und man kann in ruhiger Betrachtung die beiden schlichten hellen Sarkophage auf sich wirken lassen. Die Zeichen für Alpha und Omega, Anfang und Ende, sind jeweils am Fußende der Marmorsärge eingraviert. Mit wenigen Worten wird auf dem gemeinsamen Sockel das Wichtigste gesagt: IVNCTI CONIVGIO FATIS IVNGVNTUR EISDEM –»Verbunden durch das Band der Ehe, vereint durch das gleiche Schicksal«.

      So wie ich meinen Urgroßvater einschätze, war es für ihn unerheblich, ob er in Wien oder

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