Er war mein Urgroßvater. Christiane Scholler
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Und nun gehen Sie von rechts seitlich auf den Wagen zu. So, als wollten Sie die Türe öffnen und einsteigen. Etwa eineinhalb Meter davor bleiben Sie stehen. Blicken Sie auf die gepolsterte Rückbank und stellen Sie sich vor: Dort sitzt Franz Ferdinand, der Thronfolger, und rechts neben ihm seine über alles geliebte Sophie. Und nun versuchen Sie sich vorzustellen, dass draußen, direkt neben Ihnen, der Attentäter seine Hand mit der Pistole hebt …
Franz Ferdinand im Gespräch mit einem Offizier
Die knappe Stunde davor muss für Franz Ferdinand eine Mischung aus Routine und Aufregung gewesen sein. Sehr wahrscheinlich hat er zunächst ein erleichtertes Resümee gezogen, dass die absolvierten Manöver-Besuche in den Tagen zuvor trotz einiger heftiger Wetter-Kapriolen gut abgelaufen waren und nun das Ende der Bosnien-Reise nahte. Zufrieden mit der seit 26. Juni laufenden Heerschau, an der 22.000 Soldaten verschiedenster Nationalitäten teilgenommen hatten, sollte auch Kaiser Franz Joseph sein, in dessen Auftrag mein Urgroßvater die Truppen inspizierte. Franz Ferdinands Telegramm vom 27. Juni 1914 an seine Majestät in Bad Ischl war entsprechend positiv:
»Der Zustand der Truppen, ihre Ausbildung sowie ihre Leistungen waren ganz vorzüglich und über alles Lob erhaben […] beinahe keine Maroden, alles frisch und munter. Morgen besuche ich Sarajevo und reise abends ab. In tiefster Ergebenheit mich zu Füßen legend Euer Majestät untertänigster Franz.«
Das klingt zufrieden und mit sich und der Welt im Reinen. Die Manöver sind wie erhofft zu einer Art großer Heerschau des Habsburgerreiches geworden. Der Zweck der Bosnien-Reise ist also erfüllt. Da würde an sich nichts gegen eine sofortige Abreise Richtung Heimat sprechen. Doch das offizielle Programm sieht noch eine Stadtrundfahrt und ein Abschiedsessen vor. Gut gelaunt schickt der Thronfolger also am Morgen jenes verhängnisvollen 28. Juni an das älteste seiner drei Kinder, Tochter Sophie, ein kurzes Telegramm: »Befinden von mir und Mami sehr gut. Wetter warm und schön. Wir hatten gestern großes Diner und heute Vormittag den großen Empfang in Sarajevo. Nachmittags wieder großes Diner und dann Abreise auf der Viribus Unitis. Umarme Euch innigst. Dienstag. Papi.« (Viribus unitis, lateinisch für »Mit vereinten Kräften«, ist der Name eines Schiffes.)
Der Thronfolger beobachtet mit Generalmajor Dr. Carl Bardolff (Chef der Militärkanzlei) den Verlauf des Manövers.
Nicht ganz so entspannt waren jene Berater meines Urgroßvaters, die noch kurz vor dem Sarajevo-Besuch ausdrücklich davor warnten. Conrad von Hötzendorf zum Beispiel, der österreichische Generalstabchef, verabschiedete sich mit den Herren in seiner Begleitung gleich nach dem Nachmittags-Diner im Hotel Bosna am 27. Juni. Er wurde zur Garnison-Inspektion in Karlovac erwartet. Das war ein guter Anlass für den Vorschlag einiger Begleiter Franz Ferdinands, sich Hötzendorf anzuschließen und ebenfalls sofort abzureisen. Was sprach schon dagegen?
Leider vor allem Feldzeugmeister Oskar Potiorek, Landeschef von Bosnien und der Herzegowina. Er hatte die gesamte Visite organisiert, und ihn wollte der Erzherzog nicht vor den Kopf stoßen. Oberstleutnant von Merizzi, der Adjutant Potioreks, sprach es offen aus: Eine Absage würde seinen Chef bestimmt kränken. Und sogar Sophie meinte, an den Präsidenten des bosnischen Landtages, Josip Sunaric, gewandt: »Lieber Sunaric […] wir sind überall im Lande, auch ausnahmslos von der serbischen Bevölkerung, so freundlich begrüßt worden und mit einer Herzlichkeit und ungeheuchelten Wärme, dass wir ganz glücklich darüber sind.« Bedeutungsschwer daraufhin Sunarics Antwort: »Hoheit, ich bitte Gott, dass, wenn ich morgen Abend die Ehre habe, Sie zu sehen, Sie mir dieselben Worte wiederholen können. Mir wird dann ein Stein vom Herzen gefallen sein, ein großer Stein!«
Der Erzherzog und Dr. Carl Bardolff
Vieles sprach dafür, vorzeitig die Heimreise anzutreten und froh zu sein, dass die Bosnien-Visite bis dato ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen war. Zum Beispiel die Tatsache, dass Attentate auf dem Balkan zur damaligen Zeit keine Seltenheit waren. Bereits in den Jahren zuvor waren österreichische Würdenträger des Öfteren mit Bomben attackiert worden. Stets stammten die Attentäter aus Bosnien. Sie waren dort zur Schule gegangen, emigrierten in das Königreich Serbien und traten in Belgrad der »Schwarzen Hand« bei, einer radikalen Geheimgesellschaft, die systematisch Hass auf alles Österreichisch-Ungarische schürte. Geleitet wurde sie von einem fanatischen Oberst namens Dragutin Dimitrijevic, bei seinen Anhängern unter dem Codenamen »Apis« bekannt (in Anspielung auf den ägyptischen Apis-Stierkult). Er machte aus jungen Männern nationalistisch verhetzte Spione und fanatische Attentats-Süchtige. Ihre Tätigkeit hatte nur ein Ziel: die Vereinigung aller Südslawen zu einem großserbischen Reich. Der künftige Herrscher Franz Ferdinand jedoch wäre solchen Plänen mit Sicherheit im Wege gestanden. Im Thronfolger sah der nationale Fanatiker »Apis« deshalb einen deklarierten Feind des Serbentums. So wie er dachten viele Serben.
Dazu kam die unglückselige Auswahl des Datums: Der 28. Juni war der Vidovdan, der Nationalgedenktag aller Serben. Am 28. Juni 1389 hatten die Serben durch die Niederlage gegen die Türken in der Schlacht auf dem Amselfeld ihre Freiheit für Jahrhunderte verloren. Ausgerechnet diesen Tag für den Sarajevo-Besuch auszuwählen, zeugt von der geringen Menschenkenntnis und wohl auch diplomatischen Unfähigkeit des Organisators Potiorek. Dies im Zusammenhang mit der Tatsache, dass sich zum Schutz des hohen Besuches kein Militär in Sarajevo befinden konnte, da die Soldaten ja samt und sonders für die Truppenübungen außerhalb der Stadt zusammengezogen waren. Zu guter Letzt war mein Urgroßvater auch noch bekannt für die Abneigung gegen Sicherheitsvorkehrungen, die seine Person betrafen. Legendär ein Ausspruch, den er an den Leiter seiner Militärkanzlei, Oberst Bardolff, gerichtet hatte: »Ihre Warnung ist gewiss berechtigt, aber unter einen Glassturz lasse ich mich nicht stellen. In Lebensgefahr sind wir immer. Man muss nur auf Gott vertrauen.«
Meine Urgroßeltern machen sich also auf den Weg. Auf dem Plan stehen Stadtrundfahrt, kurze Behörden-Besuche, Abschieds-Diner am frühen Nachmittag, und dann ist auch schon das Ende des Sarajevo-Besuches in Sicht. Sophie freut sich auf die Heimreise, vor allem auf die drei Kinder. Noch wenige Augenblicke vor dem Attentat sitzen Sophie und Franz Ferdinand relativ entspannt – er links in Generalsuniform, sie rechts im weißen Seidenkleid, lächelnd, mit Sonnenschirm – hinter dem Organisator des Besuchs, jenem Feldzeugmeister Potiorek, sowie dem stolzen Autobesitzer Graf Harrach. Vor ihnen Harrachs Chauffeur Leopold Loyka, neben diesem der Leibbüchsenspanner des Erzherzogs. Alle Insassen sind erstaunlich gefasst – obwohl bereits kurz vor dieser Aufnahme eine adaptierte Handgranate gegen den Fahrzeugkonvoi geschleudert worden war. Ein misslungener erster Attentatsversuch!
Ankunft in Sarajevo
Wenn heutzutage eine Granate oder gar Bombe in zivilem Umfeld explodiert, ist Feuer am Dach. Alarmstufe Rot, Zivilbevölkerung von den Straßen, Polizei, Feuerwehr, Zivilschutz, Entschärfungsdienst: Wer und was auch immer im Katastrophenfall organisiert werden kann, wird mobilisiert. Das Szenario von Sarajevo ist bei einem heutigen Staatsbesuch schwer vorstellbar. Moderne Sicherheitsvorkehrungen machen derlei Vorkommnisse