Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Stuart Hall
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Einmischung in diese Freiheiten können nicht mehr aus Lust und Laune der Krone oder des Staates erfolgen, sondern müssen rechtlich genehmigt sein. Selbst der Staat war dem Gesetz unterworfen, d. h. Herrschaft durch das Recht oder ›Rechtsstaatlichkeit‹. Der liberale Staat musste stark sein, um das Leben und das Eigentum der Individuen zu beschützen, um frei abgeschlossenen Verträgen Geltung zu verleihen und die Nation gegen äußere Angriffe zu verteidigen. Aber dieser Staat musste sich auch zurücknehmen und nicht in zu viele Bereiche intervenieren. Insbesondere sollte er sich aus ökonomischen Transaktionen heraushalten und sie dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen (die Wurzel der Doktrin des Laissez-faire).
Dieser ›liberale kapitalistische‹ Staat war freilich keine Demokratie. Die Mehrheit durfte nicht wählen, sich nicht frei versammeln, nicht veröffentlichen, nicht Mitglied einer Gewerkschaft werden, als Andersgläubige kaum einen Posten annehmen. Frauen durften weder wählen noch über Eigentum verfügen. Die Kämpfe der Mehrheit des gemeinen Volkes und der Arbeiterklassen, um diese politischen und Bürgerrechte für sich zu erlangen, bildeten die Grundlage der Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts. Sie veränderten zwar nicht die grundlegende Form des liberalen Staates, modifizierten ihn aber erheblich, indem sie seine Repräsentationsbasis und seine demokratische Substanz erweiterten. Am Ende wurde die ›Demokratie‹ in den liberalen Staat eingepasst, um jene hybride Variante zu schaffen, die vom klassischen Liberalismus unterschieden werden muss: den liberal-demokratischen Staat. In den letzten Jahren des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg wuchs der Wettbewerb zwischen den sich industrialisierenden Weltmächten: das war ein Gerangel zwischen den imperialen Mächten. Großbritannien verlor seine führende Wettbewerbsfähigkeit: andere Nationen industrialisierten schneller und überholten die Briten. Es gab einen neuen Antrieb, die britische Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die Gesellschaft zu modernisieren und sie ›effizienter‹ zu machen. Zusehends wurde das Argument gestärkt, dass der liberale, minimalistische, Laissez-faire-Typ des Staates diese Aufgabe nicht erfüllen könne. Großbritannien brauchte einen stärker steuernden, interventionistischen Staat, der in der Lage war, organisch im Interesse der ganzen Gesellschaft zu agieren und zu planen.
Dieser Schritt zum Kollektivismus wurde aus zwei Richtungen verstärkt: Unterstützung kam von den herrschenden Klassen im Namen einer größeren ›nationalen Leistungskraft‹; und auch von den arbeitenden Klassen, den Armen und den Arbeitslosen, weil sie glaubten, dass dem Industriekapitalismus nur durch den Staat Reformen auferlegt werden können, die ihre Lebensverhältnisse verbessern und weitergehende ökonomische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit herstellen würden. Den Egalitarismus vertretende Bewegungen und Sozialisten sehr verschiedener Couleur forderten dementsprechend eine erweiterte Rolle für den Staat. Die Reformer glaubten, dass es ohne Staatsintervention niemals eine angemessene Versorgung für die Armen, die Arbeitslosen, die Alten und die Kranken geben werde. Die Sozialisten argumentierten, dass der Wohlstand ohne Staatsintervention niemals gerechter geteilt werde. Die Arbeiterbewegung engagierte sich zu dieser Zeit für ›gesellschaftliches‹ (praktisch Staats-) Eigentum und für die Kontrolle der Leitungspositionen der Wirtschaft. Im Großen und Ganzen waren es die evolutionären und reformistischen Versionen dieser Programme, die in der britischen Arbeiterbewegung institutionalisiert wurden.
Kollektivistische Staatspolitik wurde nur langsam und ungleichmäßig umgesetzt. Trotz Anstrengungen in dieser Richtung zwischen 1906 und 1911 und zwischen den Weltkriegen erreichten diese ›reformistischen‹ Tendenzen ihren Höhepunkt erst mit dem Nationalisierungsprogramm und den sozialstaatlichen Maßnahmen der Nachkriegs-Labour-Regierung im Jahre 1945.
Die ›Entstehung‹ des Wohlfahrtsstaates wird mit Recht den reformerischen Sozialprogrammen der Liberalen Regierung von 1906 – 1911 zugeschrieben; aber seinen Höhepunkt erlebt er in der Zeit der Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er Jahren wurde zuerst Großbritannien und in Folge auch alle anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften ›Wohlfahrtsstaaten‹. Diese Tendenz wurde selbstredend von denen abgewehrt, die eine ›liberale‹ Auffassung von Staat gefährdet sahen, und von denen, die glaubten, dass sie ›überbesteuert‹ werden, um solch einen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Aber die Versorgungsempfänger – die Volksmehrheit – sahen ihn positiver. Die Basis für eine ›Nachkriegs-Vereinbarung‹ über den grundlegenden politischen Rahmen für die britische Nachkriegsgesellschaft ergab sich aus der stillschweigenden Übereinstimmung zwischen den zwei wichtigsten politischen Kräften. Dieser Konsens umfasste staatlich unterstützte oder finanzierte Wohlfahrt, Leistungen, Wohnungen, Bildung; ebenso Vollbeschäftigung und eine bedeutendere Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik (um die Katastrophen der Zwischenkriegsperiode zu vermeiden). Die ›Vereinbarung‹ wurde unter dem Namen ›Butskellism‹ bekannt: Gaitskell (Vorsitzender der Labour-Partei) und Butler (Anführer der Reformer der Tory-Partei), die die politische Aushandlung leiteten, waren auch Namensgeber der Vereinbarung. Nachträglich wurde sie auf ihren Chefberater Keynes zurückgeführt. Bildeten die politischen Reformen des 19. Jahrhunderts den ersten Schritt des Reformismus, der den liberalen Staat modifizierte, war Wohlfahrt der Folgeschritt: die Erweiterung der ›Bürgerschaft‹, die bestimmte soziale und ökonomische Rechte erhielt, und das Ende eines rigorosen Laissez-faire – genauso wie das beträchtliche Anwachsen des staatlichen Verwaltungsapparates.
Wir müssen dieser Entwicklung die Auswirkungen gegenüberstellen, die die diversen zur selben Zeit in Europa auftauchenden radikalen Tendenzen auf die politischen Einstellungen und Wahrnehmungsweisen in Großbritannien hatten. Evolutionärer, reformistischer Kollektivismus gipfelte im Wohlfahrtsstaat. Revolutionärer Kollektivismus gipfelte in der Herausbildung kommunistischer Staaten: die bolschewistische Revolution in Russland im Jahr 1917; die Entstehung des kommunistischen China in den 1940er Jahren; und die Ausbreitung dieses Regime-Typs innerhalb Osteuropas nach dem Krieg, weitgehend im Schatten sowjetischer Okkupation. In diesem Modell ›übernehmen‹ der Staat und die Politik das ›Kommando‹. Der Staat absorbiert die wesentlichen Funktionen der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft und nimmt ihre positive Transformation in Angriff. Er führt ein Regime der nationalen Mobilisierung und strengen Reglementierung ein. Insbesondere das letzte Merkmal diskreditierte das Image des Kollektivismus in Großbritannien.
Parallel hierzu erfolgte der Aufstieg des faschistischen Staates: Mussolini in Italien, Hitler in Deutschland, Franco in Spanien, Salazar in Portugal. Paradoxerweise scheinen faschistische und kommunistische Staaten gemeinsame Merkmale zu teilen: sie sind Ein-Parteien-Staaten; sie sind diktatorisch in ihrer Form, ›faschistische Gewaltherrschaft‹ versus ›Diktatur des Proletariats‹. Diese Merkmale, die beide Staatsformen trotz ihrer radikalen Unterschiede in Politik und Ideologie teilen, erlaubten es Orwell, beide in einem gemeinsamen Modell zu synthetisieren: ein Bild vom Totalitarismus, das von da an die liberale Vorstellungswelt heimsuchte und nach 1947 im Zuge des Kalten Krieges zu einem Mahnmal erstarrte. Das ist der Moment, da die ›aufsteigende Kurve‹ der positiven Einstellung gegenüber dem Staat einen großen Umschwung erfuhr und unmerklich in eine ›absteigende Kurve‹ überging.
Diese Entwicklungsrichtung gewinnt im Lichte der 1960–70er Jahre an Kontur: Vorrangig unter ›sozialdemokratischen‹ (z. B. Labour-) Regierungen – aber nicht unähnlich unter konservativer Regierungsführung – wurde der liberal-demokratische Staat zunehmend ein interventionistischer. Dieser beteiligte sich an allen Sphären des Lebens. Er etablierte ein aktives Auftreten