Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Stuart Hall
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Die Grenzen zwischen ›Staat‹ und ›Zivilgesellschaft‹ waren nie festgeschrieben, sondern ständig im Wandel. Öffentlich und privat sind keine natürlichen, sondern gesellschaftlich und historisch konstruierte Teilungen. Eine der Weisen, mittels der der Staat seine Reichweite ausdehnte, war das Ziehen neuer Grenzen zwischen öffentlich und privat und damit auch die Neuaufstellung der Definition des Privaten, was das Intervenieren des Staates in Bereiche legitimierte, die bisher als unantastbar galten.
Ist der Staat autonom gegenüber der Gesellschaft?
Auch wenn die ›Separiertheit‹ des Staates von der Gesellschaft in den verschiedenen Staatsapparaten der Regierung und der Staatsmaschine institutionalisiert ist, heißt das deswegen nicht, dass der Staat von der Gesellschaft unabhängig ist. Wenn der Staat unabhängig wäre, dann wäre er gänzlich außerhalb des Spiels gesellschaftlicher Kräfte und Verhältnisse und triebe sich selbst an. Tatsächlich entspringt der Staat der Gesellschaft und wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn umfassen, machtvoll geformt und beschränkt. Zur gleichen Zeit stellt der Staat selbst ein organisiertes und verdichtetes Kräfteverhältnis dar, ausreichend separiert, um in die Gesellschaft in seinem Sinne zurückzuwirken, in sie zu intervenieren und sie zu formen.
Deshalb das relationale Wesen des Staates: Der Staat steht in kontinuierlicher Interaktion mit der Gesellschaft; er reguliert, ordnet und gestaltet sie. Wir haben bereits die Notwendigkeit betont, dass der Staat den Gehorsam seiner Untertanen verlangen oder ihnen ihre Pflichten auferlegen muss. Aber wir haben auch gesagt, dass dieser Prozess ›Zustimmung‹ einschließt – die allgemeine Bereitschaft der Bevölkerung, trotz vieler Vorbehalte die staatliche Herrschaft zu unterstützen und mit ihr konform zu gehen. In liberalen Demokratien wurde diese Zustimmung genau genommen durch das Wahlrecht und eine repräsentative Staatsführung formalisiert, auf der Grundlage einer territorial bestimmten Wählerschaft (hinzu kommen gewisse rechtsdefinierte soziale und Bürgerrechte). In diesem Fall helfen die Bürger, den gesetzgebenden Teil des Staates formal durch den Wahlvorgang zusammenzustellen und zu konstituieren. Solch ein Staat kann offensichtlich nicht autonom gegenüber der Gesellschaft sein. Das Entgegenkommen des Staates gegenüber der Gesellschaft erschöpft sich nicht in formalen Systemen der Volksrepräsentation. In solchen Gesellschaften ist die öffentliche Meinung oft das sensibelste Barometer für die Zustimmung des Volkes und die Wandlungen in seinen Einstellungen.
Der Staat kann nicht völlig außerhalb der sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse und Institutionen der Gesellschaft stehen. Eine seiner Hauptfunktionen ist das Bewahren von Recht und Ordnung; aber die ›Ordnung‹ in einem kommunistischen Staat ohne Privateigentum und mit seiner Verschmelzung von Wirtschaft und Politik ist sehr verschieden von der Ordnung in westlich-liberalen kapitalistischen Gesellschaften, die auf Privateigentum, Lohnarbeit, Transaktionen am Markt und der formellen Trennung zwischen Wirtschaft und Politik gründen. Staaten ›erhalten‹ nicht bloß die ›Ordnung‹ aufrecht. Sie erhalten besondere Formen der gesellschaftlichen Ordnung aufrecht: eine bestimmte Reihe an Institutionen, eine bestimmte Ausgestaltung von Machtverhältnissen, eine bestimmte Sozialstruktur und Wirtschaft. Der ›leere‹ Staat – ein Staat ohne gesellschaftlichen Inhalt – existiert nicht.
Da der Staat aus einer spezifischen Ausgestaltung sozio-ökonomischer Verhältnisse und Institutionen entsteht, reflektiert er bei seinen Staatshandlungen die Form, Struktur und Ausgestaltung dieser gesellschaftlichen Formationen. Eine feudale Gesellschaft kann nicht von einer kapitalistischen Staatsform regiert werden. Der kapitalistische Staat basiert auf einer Gesellschaft und ist für eine solche geeignet, die über Kapitalverkehr funktioniert: in der die Wirtschaft hinsichtlich ihrer Profitabilität beurteilt wird, wo Einnahmen von der systematischen Erhebung von Steuern abhängen, wo die Macht›pyramide‹ sich aus den Klassen der modernen Industriegesellschaft heraus bildet, nicht aus feudalen Ständen; und die allgemeine Gesinnung ist nicht religiös, sondern säkular und individualistisch mit einem demokratischen oder ›egalitären‹ Ethos. Trotz der formalen Trennung zwischen Wirtschaft und Politik gibt es gewichtige Gründe, warum beide bis zu einem gewissen Grad dazu tendieren, sich zu entsprechen.
Der Staat ist demnach nicht autonom gegenüber der Gesellschaft. Das heißt nicht, dass der Staat in Form und Funktion gänzlich durch die Gesellschaft bestimmt wird. Es gibt komplexe Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen der Form des Staats und der Art der Gesellschaft. Aber der Staat wird von der Gesellschaft mit der ultimativen Macht der höchsten Autorität ausgestattet, autorisiert, über der Gesellschaft zu stehen und sie zu regieren. Der Staat lässt sich nicht vollständig auf die Gesellschaft reduzieren. Etwas ist hinzugefügt, wenn Macht in der Gesellschaft in einer separaten und besonderen Herrschaftsinstanz organisiert wird. Aus dieser Perspektive scheint es klar, dass der Staat die Gesellschaft konstituiert, wie auch er selbst von ihr konstituiert wird. Staaten sind somit nicht autonom gegenüber der Gesellschaft. Sie sind nur ›relativ autonom‹.
Diese Frage, ob der Staat gegenüber der Gesellschaft autonom oder auf sie reduzierbar ist, ist eins der wichtigsten Kritierien, um die verschiedenen Theorien über den Staat voneinander zu unterscheiden. Schlichte pluralistische Theorien gehen davon aus, dass der Staat weitgehend autonom ist. Inputs von konkurrierenden Interessengruppen münden in den Staat ein: der Staat agiert als Schiedsrichter zwischen ihnen. Seine Neutralität gegenüber den verschiedenen Interessengruppen der Gesellschaft wird durch seine Separatheit und Autonomie garantiert. Schlichte marxistische Theorien wiederum halten den Staat für ein Werkzeug der herrschenden Klasse. Sein Gehalt, sein Ziel und seine Strategie sind identisch mit denen der herrschenden Klasse. Seine Funktion ist die Verwaltung der Gesellschaft zugunsten der Interessen der herrschenden Klasse. Seine ›Separatheit und Autonomie‹ sind eine Illusion, ein Trick, um die Machtlosen zu täuschen, damit sie denken, der Staat sei neutral und stünde über und neben solch verkommenen Vorgängen. Staatstheorien schwanken weitgehend zwischen diesen zwei Polen der ›Autonomie‹ und ›Identität‹.
Repräsentation und Konsens
Der Staat ist in gewisser Weise ›repräsentativ‹ gegenüber der Gesellschaft. Aber Repräsentation ist ein schlüpfriger Begriff. Der absolute Monarch fühlte, dass er ›der Vater seines Volkes‹ war und die Pflicht hatte, sein Volk zu behüten, sich um seine Wohlfahrt zu kümmern und seine Interessen zu vertreten. Aber das gemeine Volk hatte keine formalen Rechte der Repräsentation. Repräsentation ist nie ein einfacher, transparenter Prozess. Ein Abgeordneter des Parlaments mag sich Ihre Sichtweisen anhören und versuchen, ›diese‹ so gut er oder sie kann zusammen mit den Standpunkten anderer im Parlament zu ›repräsentieren‹. Aber es wäre naiv zu glauben, dass er oder sie das, was Sie sagen oder wünschen, direkt und ohne Modifikation weitervermittelt. Politiker und Politikerinnen können das Volk allgemein in dem Sinne ›repräsentieren‹, dass die einzelnen Bürger und Bürgerinnen etwas Bestimmtes erwarten – z. B. verschärfte Gesetze, Sicherheitspolitiken, die Wiedereinführung der Hinrichtung durch den Strang – wobei ›diese Einzelnen‹ nicht wissen, dass sie dies wollten, bevor es für sie formuliert wurde.
Die Vorstellung, dass der Staat bezogen auf ›Repräsentativität‹ und ›Konsens‹ definiert werden sollte, spielte für den Staatsbegriff bis zu den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts keine Rolle. Der wesentliche Bruch erfolgte mit Hobbes, der begann, Individuen als eigenständige, besitzergreifende und eigennützige Einheiten im ›Naturzustand‹, in Abwesenheit jeglicher Gesellschaft zu fassen und, daran anschließend, den Staat als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages zwischen einwilligenden Individuen zu erklären.
Seit diesem Zeitpunkt stand das Regieren im Einverständnis im Zentrum der modernen Vorstellung vom Staat. In der liberalen Theorie wurde dies gänzlich individualistisch bestimmt. Die Klasse derer, deren Einverständnis zählte, war strikt beschränkt – obgleich dieses Einverständnis der Bevölkerung