Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Stuart Hall
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›Konsens‹ ist ein kritisches Konzept für alle Gesellschaftsverträge und liberalen Staatstheorien. Aber seine Bedeutung bleibt mehrdeutig. Muss Zustimmung positiv und begeistert sein? Kann Zustimmung stillschweigend, widerwillig, gewohnheitsmäßig erfolgen – oder erzwungen werden? Die Versöhnung der Theorie der Individualrechte und des Konsens mit der unveräußerlichen Tatsache der Staatsmacht bleibt seither eine heikle Frage für liberal-individualistische Staatstheorien.
Ein Staat sei notwendig, so argumentierte Hobbes, »um festzusetzen, auf welche Weise alle Arten von Verträgen zwischen Untertanen (wie Kaufen, Verkaufen, Tauschen, Leihen, Pachten und Verpachten) abgeschlossen werden« (zit. n. Macpherson 1967: 114; vgl. Hobbes 1984: 131). Hiermit ist ein Grundstein liberaler Staatstheorien in Marktgesellschaften und -ökonomien identifiziert. Theorien des Gesellschaftsvertrages hoben diese neuen sozio-ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts auf die Stufe eines abstrakten Prinzips. Hobbes hingegen konnte nicht erklären, wie seine Individuen im Naturzustand, in Abwesenheit jeglicher Gesellschaft, hinreichend »die gesellschaftlich erworbenen Verhaltensweisen und Begierden des Menschen« besitzen (Macpherson 1967: 35), die sie befähigen, ihre Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag zu formulieren. In Wirklichkeit werden Individuen nicht in ein natürliches Nichts hineingeboren, sondern in bereits funktionierende Gesellschaften, in bestimmte Sozialordnungen innerhalb gesellschaftlich geformter Verhältnisse und mit bereits bestehenden Pflichten gegenüber dem Staat. Ihre Zustimmung muss demnach ebenso gesellschaftlich geformt sein. Zudem muss Zustimmung nicht notwendigerweise spontan sein. Wir können machtvoll vom Staat beeinflusst werden, um zuzustimmen. Sie kann im wahrsten Sinne ›hergestellt‹ werden.
In liberalen Demokratien sind Konsens und Repräsentation oft untrennbar miteinander verbunden. Die konsensuelle Basis des Staates ist durch den formalen Prozess der repräsentativen Staatsführung besiegelt. Noch mal: das ›repräsentative‹ Wesen des Staates trat nicht zuerst mit der liberalen Demokratie auf. Die Armen und die Entrechteten konnten gegenüber den Mächtigen immer Beschwerden oder ›Bittgesuche‹ vorbringen. Absolute Herrscher fühlten sich verpflichtet, diese Repräsentationen anzuerkennen – wenn nicht zu einem anderen Zweck, dann um Rebellionen, Unruhen und Beutezügen vorzubeugen. Das System der Entsendung eines ›Vertreters‹ derer, die dem König Abgaben schuldeten oder die wünschten, ein Gesuch bei ihm vorzubringen, ließ im 13. und 14. Jahrhundert eine Fülle von unabhängigen Experimenten mit frühen Formen einer repräsentativen Staatsführung entstehen: die Grundlegung der modernen parlamentarischen Regierung (Hexter 1983). Keine dieser Formen allerdings entspricht den modernen Formen der demokratischen Repräsentation auf der Grundlage ›eine Person, eine Stimme‹.
Nur mit den Werken radikaldemokratischer Theoretiker wie z. B. Jean-Jacques Rousseau und später im Gefolge der Französischen Revolution und auch der popularen Reformbewegungen, die im Kontext des industriellen Kapitalismus und moderner Klassenformationen aufstiegen, entstand das Interesse an einem Staat auf der Grundlage eines universellen Systems der Repräsentation, verankert in einer schwachen Version des ›souveränen Volkswillens‹ (wie ihn Rousseau nannte) oder des Gemeinwillens. Dies wurde der Prototyp für die formalen Prozesse der repräsentativen Staatsführung. Dieses liberal-demokratische Herrschaftssystem musste sich hin zum ›liberalen‹ Staat transformieren. Dieser Prozess wurde in Großbritannien erst mit den Reformbewegungen der popularen und Arbeiterklasse des frühen 19. Jahrhunderts eingeleitet und war nicht vor dem erreichten Wahlrecht von Frauen im 20. Jahrhundert vollendet.
Der Staat und gesellschaftliche Interessen
Die Gesellschaft ist angefüllt mit machtvollen und konkurrierenden Interessen. Auf wessen Seite ist die Staatsmacht nun eingespannt? In welchem Interesse funktioniert der Staat?
Gesellschaftliche Interessen sind sehr schwierig zu definieren. Die meisten Interessen konfligieren: Arbeiter brauchen höhere Einkommen, wollen aber den Preis für ihre Arbeitskraft nicht derart verteuern, dass sie ihre Lohnarbeit gefährden. Interessen sind auch historisch bestimmt: sie verändern sich im Laufe der Zeit und unter anderen Bedingungen. Geschichte erzeugt ›neue‹ Bedürfnisse und dementsprechend auch neue Interessen. Es gibt keine festgeschriebene, ewige Liste verallgemeinerter Bedürfnisse, die man einfach aus dem ›Menschsein‹ ableiten könnte. Unsere Interessen sind gesellschaftlich und kulturell bestimmt. Zudem können uns Interessen nicht schlicht auf der Grundlage unserer kollektiven Identitäten oder sozialen Position zugeordnet werden. Nicht alle ›Kleinbürger‹ wollen die Welt wie einen Kaufladen betrieben sehen. Nicht alle Arbeiter wollen eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft. Nicht alle Bosse verfolgen ihr Interesse, indem sie die Armen immer weiter ausbeuten. Interessen neigen dazu, sich in bestimmten Weisen als eine Folge unserer sozialen oder Klassenposition, unserer Bildung und unserer Perspektiven herauszubilden. Aber es gibt keine festgeschriebene und unveränderliche Agenda der Klasseninteressen, die den gesellschaftlichen Gruppierungen formell zuschrieben werden kann, losgelöst von dem Prozess, in dessen Verlauf Interessen geformt und verändert werden, umkämpft sind und durch Kämpfe transformiert werden. Wenngleich die materiellen Interessen einen besonders starken Antrieb für das aktive Handeln bilden, sind sie nicht unwiderstehlich. Arbeitslosigkeit treibt nicht alle Arbeitslosen zwangsläufig dazu an, die Linken zu wählen. Probleme lassen sich nicht allein dadurch lösen, dass man sich auf die ›materiellen Interessen‹ beruft – auch wenn sie zugleich zu bedeutend sind, um sie außer Acht zu lassen. Auch ›Köpfe und Herzen‹ sind interessenlastig. Diese Voraussetzungen müssen berücksichtigt werden, wenn wir Theorien analysieren oder wenn wir Handlungen und Strategien von Gruppen erklären und uns dabei auf ihre Interessen beziehen, die sie gegenüber dem Staat durchsetzen wollen.
Staatstheorien können auch dahingehend kategorisiert werden, wie sie gesellschaftliche Interessen und den Staat begreifen. Wie schon erwähnt, vertritt der Staat in liberalen Theorien die Interessen von individuellen Staatsbürgern. Seine Funktion ist das Schaffen von Bedingungen, unter denen Leben, Leib und Eigentum der Individuen geschützt und ihre ›Rechte und Freiheiten‹ gesichert werden können. In dieser Lesart werden Individuen als autonome Einheiten angesehen, angetrieben durch Eigennutz und durch ihr natürliches Wesen, das sie besitzergreifend konkurrieren lässt. Das ›Interesse‹ solcher Individuen dem Staat gegenüber ist die Öffnung der Gesellschaft für diese Antriebskräfte, aber zugleich, dass er den Zusammenbruch der Gesellschaft und ihr Zerfallen in einen destruktiven Wettbewerb verhindert: Hobbes’ Krieg aller gegen alle.
Die pluralistische Vorstellung von Interessen und vom Staat erkennt an, dass moderne Gesellschaften nicht nur aus konkurrierenden Individuen bestehen. Es gibt große gesellschaftliche Gruppierungen – Klassen, ökonomische oder andere ›Interessengruppen‹ –, deren Interessen durchaus konfligieren können und in der Gesellschaft miteinander wetteifern. Um der ›freien Gesellschaft‹ willen muss es zulässig sein, dass dieser Wettbewerb fortschreitet; aber es muss nicht zugelassen werden, dass dieser Wettbewerb in Gewalt als Mittel der Konfliktbewältigung umschlägt. Eine ›Autorität‹ ist erforderlich, die die Konkurrenz innerhalb einer festgelegten Ordnung von ›Spielregeln‹ gewaltfrei hält; aber die ebenso gewisse gemeinsame Kompromisslösungen zustande bringt, die geeignet sind, den Konsens der Mehrheit des Volkes zu gewinnen. Dieser Schlichter ist der Staat. (Natürlich existieren noch weitere wohldurchdachte pluralistische Ansätze.)
Der liberal-demokratische oder reformistische Ansatz argumentiert, dass es jenseits der Partikularinteressen, die der Staat repräsentiert, noch etwas anderes geben muss: z. B. die Gesellschaft oder die Gemeinschaft als ein Ganzes. Der Hüter dieses ›Gemeininteresses‹ ist der Staat. Der Reformismus erkennt an, dass, indem Individuen, Gruppen oder Klassen frei sind, um für ihren eigenen Vorteil in liberalen Marktwirtschaften zu konkurrieren, ein Bereich oder eine Klasse einen größeren Anteil an Wohlstand, Kapital, Profit und Macht akkumulieren wird. Der Staat muss daher zweifellos eingreifen, um die Bedingungen für eine Ausweitung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zu schaffen, ohne den zugrunde liegenden Wettbewerbsrahmen