Von Blüten und Blättern. Elisabeth Göbel
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Heute ist Neujahr, und die Temperatur ist über den Gefrierpunkt gestiegen. Überall liegen Reste der nächtlichen Lichtershow herum, fallen schmutzig ins Auge auf dem gestern noch schneeweißen Papier. Raketenstäbe, die aus den Nachbargärten herüberkamen, trage ich zusammen, sie werden die Sommerblumen stützen. Noch sind die Konturen der Beete und des Weges verborgen, nur auf den durchs Weiße gezogenen Schneisen – zur Holzstapelwand, zum Komposthaufen, zum Apfelschuppen – schimmert die Wiese hervor. Unter der Schneedecke ist der Rasen gut geschützt, bleibt grün und frisch den Winter über, wo aber durch das Schneefegen die Grasnarbe freigelegt ist, wird man später die Frostschäden sehen, eine falbfarbene Spur. Der Garten hat keine Sommerwege mit Ausnahme der Auffahrt von der Straße zum Haus und vom Haus zum Hinterhaus, sonst ist überall Wiese, jetzt ist überall Schnee. Im Sommer gibt es keine Trampelpfade, weil wir immer wieder andere Wege gehen, mal hier mal da, wo es gerade etwas zu sehen oder zu tun gibt. Jetzt gibt es nur die Schneisen im Schnee.
Neujahr also, der Himmel grau. Den ganzen Tag über rutschen gewaltige, mit Eisbrocken vermischte Lawinen vom Dach und blockieren Haustür und Terrassentür, Eisklumpen wie Kohlköpfe groß, jetzt haltet euch fern von diesem gefährlichen Haus.
2. Januar, Sonntag
Die evangelischen Sternsinger kommen, um das Haus zu segnen, eine katholische Tradition, die sich jetzt im protestantischen Brandenburg verbreitet. Sie kommen ein paar Tage zu früh, denn eigentlich ist der 6. Januar die rechte Zeit für die kleinen Heiligen, die »Weisen« aus dem Morgenland. Als ich am späten Morgen die Zeitung vom Briefkasten hole, höre ich schon die Kinderstimmen auf der Straße. Gelb, gold und grün sind ihre Festkleider, Turbane tragen sie und einen glänzenden Stern, nur die dicken Winterstiefel passen nicht so recht zu der königlichen Pracht. Ein Stern führte die Weisen einst nach Bethlehem. Passt auf, sage ich, es kommen Lawinen vom Dach. Sie lachen. Lawinen? Wenn man aus dem Morgenland kommt, um die Häuser zu segnen, kennt man solche Gefahren nicht. Kennt man auch nicht die Ängstlichkeit der Mütter und Großmütter. Und dann läuft die Sache so unheilig ab, dass mir das Herz warm wird.
Bevor der Kleinste und Jüngste im grünen Gewand – die Farbe der Hoffnung, das göttliche Grün – den Segen mit Schultafelkreide an unsere Haustür malen darf, gibt’s Streit um diese besondere Ehre, und sie knobeln mit Tsching Tschang Tschung, bis die sie begleitende Mutter entscheidet: Der Jüngste und einzige Junge darf den Segen schreiben, und die ältere Schwester möge sich bittesehr zurückhalten und das Vorsagen lassen. Er klettert auf einen Stuhl, die Kreide in der Hand, um die Zeichen zu schreiben: Zwanzig für das Jahrhundert, dann der Stern, das C, ein Kreuz, das M, jetzt bricht die Kreide entzwei und ein Stück fällt runter, wieder ein Kreuz, schließlich das B und das letzte Kreuz, am Ende dann die Jahreszahl Elf. Zweitausendelf, dazwischen Caspar, Melchior und Balthasar. Recken muss sich der Zwerg König, obwohl wir ihm den Küchenstuhl hingestellt haben, und er malt aufs dunkle Holz mit großer Erstklässlerschrift, so dass am Ende der Zeile der Platz knapp wird und die Zeichen klein und immer kleiner geraten.
Dann stürzen sie sich auf die Süßigkeiten und den Apfelsaft, segnen auch die rote Türe vom Hinterhaus, wieder darf der grüne König schreiben und diesmal schreibt er gleichmäßig und nicht zu groß und kriegt dann den lateinischen Segensspruch von der Schwester vorgesagt, auf dass er ihn nachspreche: Christus mansionem benedicat. Christus manschonem denekipat. Darf man lachen? Man darf.
Ein Foto und schon fliegen die Schneebälle ums Haus.
Darüber nachzudenken, dass zu der Geschichte von den drei Königen die Kindermorde des Herodes gehören, verbiete ich mir. Aber dass die kleine Schar eine Sammelbüchse mitgebracht hat für Kinder, die in Kambodscha Opfer explodierender Landminen wurden, sei nicht verdrängt. Kinder im Krieg; mein Vater hat erzählt, wie wohlig warm es in den russischen Hütten mit den großen Kachelöfen war …
Später am Tag schaue ich vom Mansardenfenster auf die Straße mit den tief eingedrückten Fahrrinnen hinunter und sehe durchs Geäst der Linde ein paar blaue Schleier, endlich ein wenig Klarheit am Himmel. Auf dem Dach glitzern Schneekristalle, die Äste der Japanischen Kirsche sind wie mit dickem Pinsel über den Schnee geschriebene Kalligraphien. Im Westen schimmert es golden, der Tag ist immer noch kurz, wenn auch schon ein paar Minuten länger als um Weihnachten herum. Ich hadere mit dem Licht um jede Minute. Ich muss hinuntergehen und den Herrnhuter Stern anknipsen. Auch wenn die Könige längst weiter gezogen sind.
3. Januar, Montag
Wie leicht man ins Schwärmen gerät beim Anblick von Schnee, wie sich Klischees aufdrängen, die immergleiche Metaphorik. Das blaue Strahlen, das silberne Schimmern. Weiße Weihnacht und Zuckerwatte. Unberührtheit, Reinheit, der Schleier der Braut … Nur damit man festklopfen kann, was jedes Kind weiß, nämlich, dass Schnee etwas Wunderbares ist. Wie ein frisch bezogenes Bett, sagt Svetlana Geier, die Dostojewski-Übersetzerin, wie frisches weißes, sorgsam gebügeltes Leinen. Und kommt beim Bügeln auf die Sprache, den Text, die Textur. Jeder Text ein Gewebe. Marie Luise Kaschnitz, die Meisterin vielfädiger Textgewebe, verknüpft bei der Beschreibung ihres Hochzeitstags im Dezember den Brautschleier, den ein heftiger Wind herumwirbelt, mit dem Weihnachtsweiß, das ihr verhasst ist, und dem weißen Leintuch, das Krankheit, Sterben und Tod bedeutet. Orte heißt ihre Sammlung von Kurzprosa. Nicht mal eine halbe Seite lang ist die Geschichte über das Weiß.
Hässlich sieht die Schneedecke draußen jetzt aus, nachdem die Temperaturen über dem Gefrierpunkt liegen, ein zerwühltes Laken nach einer schlechten Nacht, überall Dellen und Knautschfalten. Wie unpoetisch sieht der Winter aus, wenn sich an den Rändern der Straßen die rostbraunen oder schlammgrauen Brocken zu porösen Bergen auftürmen, wie unschön der nasse schwere Sulzschnee auf der Fahrbahn, die Pinkelspuren der Hunde, fixiert im verlorenen Weiß.
Und die Kälte. Wenn der Frost nachlässt, wird das Frösteln größer.
Meine Cousine, die letzte mütterlicherseits, die mir nahe stand, ist gestorben, und ich wusste es nicht. Sie lebte allein, war kinderlos, und als ich sie nach längerer Pause anrief, gab es eine Irritation: Eine junge Frauenstimme meldete sich am Apparat. Falsche Nummer? Ich stammle und bekomme knapp und klanglos die Antwort: Sie ist tot, gestorben, Herzversagen. Dann weinen wir beide ein wenig, ich und die Unbekannte, und können eine Weile nicht sprechen. Es stellt sich heraus, dass man mich nicht benachrichtigen konnte, weil im Adressbüchlein der Cousine nur mein Vorname und der Vorname meines Mannes stand. In diesem schneereichen Winter hatte sie ihren letzten Geburtstag. Ich vergaß zu schreiben. Jetzt vergaß ich zu fragen, auf welchem Friedhof sie liegt.
Kaschnitz. Vom Sommermenschen, vom Strand zur Windsbraut und zu einer, die Schnee traurig macht. Ihr Mann