Der Tanz des Mörders. Miriam Rademacher
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Читать онлайн книгу Der Tanz des Mörders - Miriam Rademacher страница 3
»Mrs Summers! So dürfen Sie nicht über diese armen Menschen reden. Sie haben eben ihr Päckchen zu tragen, wie jeder von uns«, rief sie tadelnd, stellte das Tablett auf einem niedrigen Glastisch ab, goss Colin ungefragt Tee in eine Tasse und gab noch Milch und Zucker dazu. Colin starrte auf die weißen Wölkchen in der braunen Flüssigkeit und fühlte sich wie jemand, der ein Kino erst in der Mitte des laufenden Films betritt. Hastig, um nichts sagen zu müssen, griff er nach der Tasse und nahm einen großen Schluck.
Als die brennend heiße Flüssigkeit seinen Gaumen verbrannte, schossen ihm die Tränen in die Augen.
»Heiß«, mahnte Norma im Flüsterton. Jetzt wusste er es auch. Mit noch immer feuchten Augen sah er Norma nach, wie sie davonwuselte. Er tat es nicht mit Absicht, aber die Jahre auf dem Tanzparkett hatten sein Auge geschult. Die Menschen gaben in ihren Bewegungen oft mehr von sich preis, als sie selber ahnten. Der Pfarrer zum Beispiel bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines zufriedenen und ausgeglichenen Menschen. Normas Bewegungen enthielten eine gewisse Hektik und Sprunghaftigkeit, von der Colin augenblicklich auf ihr ganzes Wesen schloss.
»Es ist gewiss nicht so, dass ich diese Leute bespitzle. Nichts läge mir ferner, um ehrlich zu sein. Diese armseligen Kreaturen sind weiß Gott nicht interessant genug dafür. Aber sie sind unterhaltsam, verstehen Sie, Mr? Mr…? Ja, um Himmels willen, wie heißen Sie denn überhaupt?«
Colin öffnete den Mund und atmete einige Male stoßweise ein und aus, um seinen verbrannten Rachen zu kühlen und stöhnte dabei mehr als dass er sprach.
»Colin Duffot. Ich wohne im Ortskern bei Mrs Grey.«
»Mrs Grey, die alte Schreckschraube vermietet noch immer Zimmer? Hat sie die Schulden ihres spielsüchtigen Mannes etwa immer noch nicht abgezahlt? Hach, dabei ist der Verlierer doch schon fast ein Jahrzehnt unter der Erde.«
Colin konnte Mrs Summers, die Tee rührend dasaß und Unverschämtheiten von sich gab, immer weniger leiden. Diese Frau sollte ein wertvolles und fleißiges Mitglied von Jaspers Gemeinde sein? Kaum vorstellbar. Colin war nicht von Natur aus geduldig mit seinen Mitmenschen, sein Job hatte ihm die Geduld über Jahre hinweg aufgenötigt. Gegenüber bösartigen Menschen fiel es ihm schwer, seine Empörung zurückzuhalten, und so würde ihn dieses Gespräch auf eine harte Probe stellen, wenn Mrs Summers weiter in dieser Art und Weise über ihre Mitmenschen sprach.
Norma hatte derweil die Flucht ergriffen, Mrs Summers war in Schweigen verfallen und starrte Colin aus ihren listigen Augen an. Es war an ihm, ein neues Gesprächsthema anzustoßen. Da fiel sein Blick auf ein teuer wirkendes Fernglas, das in Griffnähe der alten Dame auf einem Beistelltischchen stand.
»Sie interessieren sich für Ornithologie?«
»Keine Spur. Damit habe ich einen besseren Blick auf die Umgebung. Sehen Sie selbst einmal hindurch, es ist ein ausgezeichnetes Glas.«
Sie reichte es dem verdutzten Colin, der es ergriff und einen Moment lang ratlos in der Hand drehte. Dann setzte er es an die Augen, wandte sich der Fensterfront zu, die den Wintergarten einfasste, und sah hinaus. Sein Blick glitt über die Rabatten in Mrs Summers’ Garten und erfasste eine Reihe eng beieinanderstehender Häuser unterhalb von Mrs Summers’ Grundstück. Das leistungsstarke Glas enthüllte ihm alle Details mit erschreckender Klarheit. Er sah sowohl die Gärten, als auch die Rückseiten der Häuser, konnte sogar durch einige Fenster in die Gebäude hineinblicken.
»In dem gelben Haus ganz links wohnt Deliza Norton. Ihr Sohn hat sich im letzten Winter erhängt. Sie behauptet wegen Depressionen, dabei weiß doch jeder, dass der Bengel stockschwul und darüber zu Recht völlig verzweifelt war. Verstehe gar nicht, wem sie meint, etwas über ihr missratenes Kind vormachen zu können.«
»Ihnen jedenfalls nicht«, entfuhr es Colin, und er war sich bewusst, dass seine Stimme einen eisigen Unterton bekommen hatte. Das hier würde hart für ihn und seine Selbstbeherrschung werden. Früher hatte er Menschen mit schwulenfeindlichen Äußerungen einfach aus seinem Tanzsaal verwiesen. Hier blieb ihm nur die Flucht. Hoffentlich konnte er sie bald antreten.
»Gewiss nicht. Was diesen Bengel betrifft, habe ich mehr gesehen als ich jemals wollte, das dürfen sie mir glauben.«
Mit einem Ruck setzte Colin das Fernglas ab und legte es auf den Glastisch. Ihm war klar geworden, wen Mrs Summers zu Beginn des Gesprächs mit so reizenden Umschreibungen bedacht hatte: Jene armen Menschen, die das Pech hatten, in Blicknähe ihres Hauses, nein, ihres Spinnennetzes zu leben. Hier hockte diese alte Spinne und starrte durch die Linsen ihres Fernglases direkt in das Leben anderer Leute hinein. Colin versuchte, sich statt in Ärger in Mitgefühl hineinzusteigern. Mitgefühl für eine Frau, deren eigenes Leben so langweilig war, dass sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihre Nachbarn gelegt hatte. Sein sich ständig beschleunigender Puls machte ihm klar, dass es ihm nicht gelingen würde. Er saß im Netz einer Spinne. Wunderbar. Er fragte sich, ob Jasper das gemeint hatte, als er von Mrs Summers als einem fleißigen Gemeindemitglied sprach.
»Ich bin hergekommen, um Ihnen Gesellschaft zu leisten. Die Aktivitäten ihrer Nachbarn interessieren mich überhaupt nicht!« Sein Ton war etwas zu scharf, seine Stimme eine Nuance zu laut.
Mrs Summers hob erstaunt die Augenbraue auf der unverfärbten Gesichtsseite und fixierte ihn. »Ach, wirklich? Das ist ungewöhnlich. Interessieren wir uns nicht alle für die Dinge, die uns nichts angehen? Nun, vielleicht nicht mit meiner Leidenschaft, aber glauben Sie wirklich, frei von Neugier zu sein, Mr Duffot?«
Colin zog es vor, nicht zu antworten. Nur nicht provozieren lassen. Er atmete tief ein.
Mrs Summers bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. »Dann wenden wir uns lieber anderen Dingen zu, nicht wahr? Mögen Sie Fotografien? Ich fotografiere sehr gern. Mein ganzes Leben hindurch habe ich dieses Dorf und seine Bewohner fotografiert. Wollen wir uns ein paar davon ansehen?«
Colin hatte das Gefühl, dieser Vorschlag sei nicht wirklich eine Verbesserung, aber er nickte ergeben.
Mrs Summers deutete mit ihrem Zeigefinger auf irgendetwas hinter Colin. »Im Wohnzimmer stehen ein paar Kartons in einem Wandregal. Suchen Sie uns einen aus, aber meiden Sie den grünen Karton. Er entspricht nicht Ihren Neigungen.« Sie lachte hämisch.
Wie erwartet, durchzuckte ein jäher Schmerz seine Wirbelsäule, als er sich aus dem Korbsessel erhob, doch er ließ sich nichts anmerken. Im Wohnzimmer hoben die drei Hunde träge die Augenlider. Colins Blick fiel auf ein hohes Regal, in dem sich nicht nur ein paar, sondern eine wahre Flut von Kartons angestaut hatte. Den grünen Karton rechts außen ignorierend, griff er nach einem grauen und versuchte die Aufschrift zu entziffern, als er hinter sich ein Geräusch hörte.
»Möchten Sie ein Glas kaltes Wasser zu Ihrem Tee?« Norma, der mitfühlenden rosa Seele, war der viel zu hastige Schluck aus der heißen Teetasse nicht entgangen. Dankbar griff Colin nach dem Glas und ließ das kalte Wasser über den wunden Gaumen fließen. »Nehmen Sie den rosa Karton. Darin bewahrt sie alte Fotos vom Stadtkern auf. Der Wandel im Laufe der Jahrzehnte ist leidlich unterhaltsam«, flüsterte sie rasch und blinzelte ihm zu. Colin verspürte das warme Gefühl der Sympathie für die kleine Frau, die jetzt in ihrer Jeanslatzhose und den weißen Stiefelturnschuhen davonging. Norma hatte etwas Unverfälschtes und Ehrliches an sich, wie Colin es an Menschen schätzte.
»Der rosa Karton? Wer hätte das gedacht! Hat sich der gute Julian doch zu früh aufgehängt, hm? Wäre jetzt wohl nicht mehr die einzige Schwuchtel im Ort?«
Colin war drauf und dran, dieser Person den rosa Karton um die Ohren zu schlagen und das Haus fluchtartig zu verlassen. Stattdessen nahm er sich vor, Jasper gehörig die Meinung zu geigen.