Die Zeit berühren. Walter Kaufmann

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Die Zeit berühren - Walter  Kaufmann

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seinen Sturz in die Tiefe nicht erleben, und nur dem erleichterten Raunen der Menge entnahm ich, daß er sich zum Dach des Quergebäudes gerettet hatte. Dort stand er jetzt mit ausgebreiteten Armen wie ein großer schwarzer Vogel.

      Die Zigeunerin hatte aufgehört, das Tamburin zu schlagen, drängte sich jetzt sammelnd durch die Menge, die sich aufzulösen begann und lichter wurde, bis nur noch wenige übrig blieben. Ich sah sie das im Tamburin gesammelte Geld zählen und als sie fertig war, hörte ich sie aufschreien – ein empörter, schriller Aufschrei war es.

      »Vier Mark siebzehn – mehr ist sein Leben wohl nicht wert!«

      Die Groschen, die ich spenden konnte, ehe ich bedrückt die Schule Schule sein ließ und nach Hause zurücklief, hatten die Summe auf keine fünf Mark gebracht – genau waren es vier Mark und siebenundvierzig Pfennig.

      Bahnwärterhaus

      Rheinland 1938

      Die Eltern wollten, daß ich von Duisburg nach Köln eine Fahrkarte löse und mein Fahrrad per Zug befördere, und als ich dann die Brodski Brüder, David und Schlomo, am Zielbahnhof traf, waren sie erschöpft von der langen Strecke, die sie ohne mich geradelt waren. Auf dem gemeinsamen Weg rheinaufwärts legten sie schon nach kurzer Zeit eine Rast ein, entfachten hinter der Uferböschung ein Feuer, und während sie sich dort ausruhten, sollte ich auf Quartiersuche gehen.

      Eine Bäuerin, die ich ansprach, wollte uns ihre Scheune nicht lassen, sollten wir doch sonstwo schlafen, und ich hatte das Gefühl, sie witterte etwas. Als sich ähnliches mehrfach wiederholte, ich wieder geringschätzig abgewiesen wurde, kam ich mir gebrandmarkt vor. Mir war, als läge Bedrohung in der Luft. Mißmutig kehrte ich zu David und Schlomo zurück, löffelte schweigend die Suppe, die sie gekocht hatten, und brauchte nichts zu erklären. »Werden wir müssen schlafen im Wald«, sagte Schlomo, und das machte mich nicht gesprächiger. Sein jiddischer Tonfall und wie er und sein Bruder die Worte verdrehten, störte mich plötzlich. Immer noch schwieg ich, und dann spülten sie das Kochgeschirr, packten es weg und löschten das Feuer. Wir radelten weiter. Gegen Abend wurde es kalt und wir froren. Der Wind pfiff, die Dynamos surrten, und das Licht der Scheinwerfer irrte über dem schmalen Flußweg. Wir bogen rechts ab auf ein Wäldchen zu, und ich hoffte sehr, dort nicht übernachten zu müssen. Aber wo sonst? Die beiden, David und Schlomo, das war gewiß, würden schon ihrer Sprache wegen nicht mehr ausrichten als ich.

      »Redet nicht so verquer«, bat ich sie, »sonst landen wir nirgends und erfrieren im Wald.«

      Schlomo zog die Schultern ein und betrachtete mich über die Achsel. »Wer wird reden«, fragte er. »Du wirst reden.«

      Der Eisenbahner, der im Fenster des Bahnwärterhauses lehnte, sah mich lange an. »Keine Bleibe, was«, meinte er. »Drei obdachlose Judenjungen.«

      Dabei hatten die Brodskis noch kein Wort gesagt. Ich spürte, daß sie mir etwas vorwarfen, fand sie im Recht und trat einen Schritt zurück.

      »Wird keinen Sinn haben, hier um Quartier zu bitten«, meinte ich zu dem Eisenbahner.

      Statt einer Antwort sagte er das von den drei Affen, von denen einer nichts hört, der zweite nichts sieht, der dritte nichts sagt.

      »Könnt ihr es so halten?« fragte er.

      Es war warm im Bahnwärterhaus, im Kanonenofen brannte knackend das Holz, und wir schliefen fest auf dem harten Boden, hörten weder den Streckenmelder noch das Rattern der Züge. Es war schon hell, als uns der Eisenbahner mit dampfendem Muckefuck weckte.

      Wir tranken die Becher leer und dankten ihm.

      »Drei Affen«, warnte er uns. »Ihr wißt Bescheid.«

      »Werden wir es nicht wissen«, sagte Schlomo achselzuckend und stieß uns dabei an.

      Der Mann stutzte. »Was soll das heißen?«

      »Von uns erfährt keiner was«, versprach ich schnell.

      »Besser auch«, sagte der Mann, »und nun ab mit euch.«

      Er sammelte die Becher ein. Und dann radelten wir nach Köln zurück.

      Wallstraße

      Berlin 1979

      Es war behaglich in der Wohnküche, Gespräche flossen dort leichter, dieses aber kam nur zustande, weil wir unter vier Augen waren – und es hat mich erschüttert.

      War ich auch Deutschen meiner Generation stets mit Vorsicht begegnet, Johannes R. nicht. Seiner Offenheit, seines freundlichen Wesens wegen hatten sich die Grenzen zwischen uns schnell aufgehoben. Ich mochte ihn, war ihm zugetan, auch vom Äußeren war er mir angenehm – ein mittelgroßer Mann mit dichtem grauen Haar, hoher Stirn und buschigen Brauen über tiefliegenden blauen Augen, die aufmerksam, dabei nicht ohne Schalk, in die Welt blickten. Er galt als ein Graphiker, der mit sparsamsten Strichen zum Wesentlichsten vorzudringen verstand und allen Büchern, die er ausstattete, einen besonderen Glanz verlieh. Zu einem Zusammenwirken zwischen uns aber war es nie gekommen. In seinen Zeichnungen lag meist etwas Humoriges, oft auch Komisches, das zu meinen Arbeiten nicht passen wollte. Im Leben aber paßten wir gut zusammen, waren gleichermaßen gesellig und den Künsten aufgeschlossen. Auch liebten wir beide das Meer und verbrachten manch gemeinsame Woche dort.

      Natürlich war er, wie fast alle Männer seines Jahrgangs, im Krieg gewesen. Nie aber hatte ich ihn mir im Einsatz vorstellen können, und seine Erinnerungen an Franzosenmädchen und norwegische Bauernfamilien, die ihn, den jungen Soldaten, wie einen Sohn aufgenommen hatten, waren mir glaubhaft erschienen – er wird auch damals schon gesellig gewesen und mochte sehr wohl in die Haut eines Franzosen geschlüpft sein, der Zivilkleider und eine Baskenmütze trug, oder in die eines rustikalen Norwegers in Kordhosen und kariertem Hemd.

      An jenem Abend aber, Angesicht zu Angesicht in der Wohnküche, sah ich ihn plötzlich breitbeinig in Stiefeln vor mir, Johannes R. in Wehrmachtsuniform, neunzehn Jahre jung und mit der Maschinenpistole im Anschlag – und zwanzig Meter vor ihm stürzen Männer, Frauen und Kinder in die Gräben von Babi Jar.

      Warum beichtet er, preßt er sich, aschfahl im Gesicht, jene grauenvollen Erinnerungen von der Seele, und warum hat er in all den Jahren geschwiegen?

      Die Fragen stehen mir in den Augen und er erkennt sie.

      »Weil ich nicht länger schweigen kann«, beteuert er. »Und du sollst wissen, ich war nicht freiwillig dort, es war Befehl. Aber keiner konnte mir befehlen, daß ich irgendwen töte. Glaub mir das! Meine Kugeln gingen über die Köpfe.«

      Wenige Wochen später verstarb Johannes R. an Krebs im Krankenhaus – und hat meine Zweifel an seinen Worten mit in den Tod genommen.

      Herz Jesu Fehrbelliner

      Berlin 1989

      Freitagabend war es, dunkel längst im November, als ich vor einem plötzlichen Regenguß Zuflucht suchte. Ich sah mich um, im matten Licht glänzten milchig die Fenster der Herz Jesu Kirche, schwach hörte ich Orgelklänge und Gesang, und als ich eintrat, mich leise dem Altar näherte, war ich einbezogen in die Messe. Der Pfarrer bemerkte mich gleich und seine Blicke blieben wohlwollend, auch als ich mich nicht bekreuzigte, nicht betend niederkniete, und es mochte sein, daß er meinetwegen Worte von der Güte und Gerechtigkeit des Herrn gegen jedermann in seine Predigt fügte. Was er noch sagte, drang nicht in mich ein. Zu beziehungslos schien es mir zu

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