Die Zeit berühren. Walter Kaufmann
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Ich aber blieb. Gebannt vom Anblick einer jungen Frau, die noch immer inbrünstig betete, blieb ich halb verborgen von einem Pfeiler in der Kirche zurück. Sie war eine schöne Frau mit blondem, hochgestecktem Haar über wohlgeformter Stirn, ihr Mund war wohlgeformt, und ihre Augen, die jetzt sehr dunkel wirkten, blickten nach innen. Lange hielt sie die Augen mit den Händen verdeckt und senkte dabei den Kopf. Jetzt aber kniete sie aufrecht und mit erhobenem Kopf, die gefalteten Hände vor die Brust gepreßt. Und weil die Zeiten waren, wie sie waren, sah ich unter den Tausenden, die seit dem Sommer außer Landes geflohen waren, einen ihr nahestehenden Menschen, die Tochter, den Sohn, den Mann, glaubte zu ahnen, daß sie sich selbst mit dem Aufbruch ins Ungewisse trug.
Weit hinter uns waren die Schritte des Kirchendieners zu hören und daß eine Tür ins Schloß fiel, und weil ich fürchtete, sie würde aufblicken und mich sehen, ging ich schnell davon. Sie abzupassen und zu befragen, verbot sich, und doch ist mir, als wüßte ich, was sie so insbrünstig beten ließ.
Knokke
Belgien 1929
Die Anrede »kleiner Mann« war mir schon vor meinem fünften Jahr geläufig, und spätestens seit jenem Sommer, als ich in Madonnas Obhut war, hielt ich ihn für treffend. Sie war achtzehn, zierlich, mit großen braunen Augen und braunem Haar, war mein Kindermädchen und ich nannte sie Donna. Ich wollte nicht, daß man sie für mein Kindermädchen hielt – hätte aber nicht sagen können, für was sonst. Ich fand sie schön und es paßte mir, daß ich erkrankte und sie mich, während die Eltern sich am Strand oder auf der Promenade des Seebads ergingen, im Hotelzimmer betreuen mußte.
Draußen strahlte die Sommersonne. Ich lag im Bett bei der offenen Verandatür und sonnte mich. Das Fieber plagte mich weniger als daß da ein Gitter war zwischen mir und Donna, ein Dutzend weiße Holzlatten, und ich wünschte sehr, sie möge das Gitter herunterklappen. Sie tat es nicht und sicher entging ihr, daß ich deswegen schmollte.
Bald hörte ich nicht mehr hin, mochte sie auch noch so anheimelnd aus dem Märchenbuch lesen, mir ihr französischer Tonfall noch so melodisch in den Ohren klingen. Ich wollte das Gitter entfernt haben. Wie aber sollte ich das begründen? Verstohlen probierte ich, ob sich ein Fuß zwischen die Latten zwingen ließ. Es schmerzte, doch es gelang. Und mit dem Fuß berührte ich Madonnas Knie. Weil sie es duldete, hörte ich bald gar nichts mehr, gingen mir die Märchen völlig verloren. Wonniglich ließ ich meinen Fuß, wohin ich ihn geschoben hatte, und spürte ihre samtweiche Haut überm Strumpf. Die Zeit verging wie im Fluge. Ich wünschte, Donna würde ewig auf dem Stuhl bei meinem Bett bleiben.
Als zur Mittagszeit die Zimmertür sich öffnete und die Mutter eintrat, klappte Madonna das Märchenbuch zu, als wäre sie bei etwas ertappt worden. Ich wollte meinen Fuß retten und fand mich im Gitter gefangen. Madonna war errötet, das aber hatte nur ich bemerkt. Sie wirkte sehr kühl, als sie der Mutter half, mich aus dem Gitter zu befreien – erst die Ferse, dann den ganzen Fuß.
»Was du bloß anstellst«, sagte die Mutter.
Ich aber antwortete nicht und war dankbar, daß auch Madonna schwieg.
Gorkistraße
Moskau 1955
Moskau, Hotel Moskwa am Roten Platz, mit der Stalinbüste im Foyer, viel Marmor und Plüsch, geräumig und wohnlich aber das Zimmer mit der Aussicht auf den Kreml und die Kathedrale – und rührend besorgt die Dolmetscherin Mariam, ein zierliches Wesen mit schwarzem Kraushaar und dunklen Augen. War ihr nach zwei Wochen eifrigster Bemühungen abzuschlagen, daß sie sich diesen Montag freinahm? Ihr Mann verreise für lange Zeit ins Ausland und sie wolle ihn zum Zug bringen. »Tun Sie das getrost«, sagte ich ihr, ohnehin hätte ich eigene Pläne für den Tag und käme zurecht.
An Rubel mangelte es nicht, ich hatte im Rundfunk gesprochen, in Zeitungen veröffentlicht, der Taxifahrer aber war weder mit Geld noch guten Worten zu bewegen, mich zu der Adresse zu befördern, die laut Auskunft in der Rezeption weit außerhalb der Stadt lag. Er gab mir meinen mit kyrillischen Buchstaben beschriebenen Zettel wieder und zeigte in die Gorkistraße. Für die kurze Strecke lohne es sich nicht, den Motor anzulassen. Verwundert machte ich mich auf den Weg und noch verwunderter nahm ich wahr, daß ich mich jetzt in Begleitung eines jungen Mannes befand, schmächtig, mit schütterem Haar und flinken Augen, der sich als Tolja vorstellte und mir seine Hilfe anbot. Gleichzeitig sei auch ihm geholfen, denn er wolle sich in Englisch üben.
Warum nicht, dachte ich, und zusammen hielten wir in der Gorkistraße nach dem Mietshaus Ausschau, in dem die Tochter eines russischen Musikers leben sollte, der vor Jahren in Australien Asyl gesucht hatte. Wortreich wies uns ein altes Mütterchen den Weg durch ein Labyrinth von Gängen bis hin zu einer Tür, an die wir klopften. Ein blasses Mädchen im Trauerkleid öffnete vorsichtig die Tür und ja, sie sei Sonja Rabinowa, die Tochter Maxim Rabinows. Sichtlich verunsichert ließ sie uns ein und führte uns zu dem Eckchen in einem Zimmer, das für sie abgetrennt war. Kleidungsstücke hingen an Haken, eine Liege und ein Stuhl füllten den Raum. Sie bot mir den Stuhl an, nahm selbst auf der Liege Platz, während Tolja mit dem Rücken zur Trennwand wartete. Nur allmählich begann sie mich über ihren Vater zu befragen, erst in Russisch, was Tolja übersetzte, dann in stockend aus dem Gedächtnis geholtem Englisch, und immer richtete sie sich an uns beide – wie dankbar sie sei, daß wir ihr die Grüße brachten, wir uns die Zeit dafür genommen hätten. Natürlich habe sie den Vater nie vergessen können, sei froh, daß es ihm gut ging und wenn doch nur die Mutter das alles vor ihrem Tod noch hätte erfahren können. »Sie hat ihm nie verziehen«, sagte sie, noch immer ihre Worte an uns beide richtend, und dann entschuldigte sie sich, daß sie nichts anzubieten habe, uns nicht bewirten könne, aber leider – wir sähen ja. Als ich ihr vorschlug, mich zurück zum Hotel zu begleiten, dort lägen noch Fotos und auch ein Brief ihres Vaters, willigte sie mit einem Blick auf Tolja ein, und es schien ihr unumgänglich, daß er mitkam.
Mich störte er inzwischen. Mir war, als verängstige er sie, schüchtere er sie ein, wußte aber nicht, wie wir uns ihm entziehen sollten, und es wunderte mich nicht wenig, als er sich erbot, im Hotel-Foyer zu warten, während ich Sonja die Fotos und den Brief gab. Wieder warf sie ihm diesen Blick zu und ich spürte, daß sie mich nur unwillig nach oben begleitete. Während ich nach dem Brief und den Fotos suchte, läutete das Zimmertelefon und Tolja meldete, daß im Speisesaal das Essen bereit stünde. Ich lud Sonja dazu ein, sie aber lehnte verstört ab. Nein, nein, das ginge nicht. Schnell noch dankte sie mir für meine Mühe – und floh.
Mir wollte das Essen nicht schmecken, nicht im Beisein von Tolja, der sich dazu eingeladen hatte. Wie kam er dazu, fragte ich mich, und als er wieder seine Sprachübungen anführte und die günstige Gelegenheit dafür, schnitt ich ihm das Wort ab.
Er atmete tief und blickte bekümmert. Womit er mich verstimmt hätte, er habe doch nur sein Bestes getan, und dann beklagte er die Kluft zwischen unseren Welten, die so tief sei, daß sich selbst Gleichgesinnte nicht mehr verstünden – und Gleichgesinnte, das seien wir doch wohl.
Was sollte ich dazu sagen? Als Gast im Lande meinte ich, mich den Gepflogenheiten fügen zu müssen. Als aber am folgenden Tag Mariam fehlte und ich herausbekam, daß sie wegen Pflichtverletzung entlassen worden war, wuchs sich mein Unmut gegen Tolja zu Zorn aus, und der legte sich selbst dann nicht, als mir Boris Polewoi in die Hand versprach, daß Mariam wieder eingestellt werden würde.
Er hat Wort gehalten. Aber Tolja und alle Toljas