Die Zeit berühren. Walter Kaufmann
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»Dort ist kein Krieg mehr«, erklärte ich ihm. »Der Waffenstillstand liegt schon ein Jahr zurück.«
»Also ist Frieden.«
Ich nickte. Da blickte er wieder zum Meer hinaus, das ruhig war noch immer, ein weites stilles Wasser unter der Sonne.
»Und doch wird es stürmen heut Nacht.«
Ich begriff, was er mir sagen wollte und warum er lebte, wie er lebte.
Zirkus
Köln 1932
Schon die Anreise war voller Spannung, allein im D-Zug nach Köln, acht Jahre alt und mit dem Taschengeld von zwei Fünfmarkstücken im Brustbeutel. Um zwölf war ich am Duisburger Hauptbahnhof, obwohl ich nur eine Stunde zu fahren und erst spätnachmittags anzukommen brauchte – Sarrasani, Kindervorstellung im Zirkus, mit Tünnes und Schäl, mit Tigern, die durch brennende Reifen sprangen, wild brüllenden Löwen, rasanten Pferden und Elefanten, die nichts vergaßen und sich zu rächen verstanden für Unrecht, das Jahre zurücklag. Auf rollenden Rädern im Abteil durchlebte ich, was ich zu sehen erhoffte – den Mann, der Feuer spie und Schwerter schluckte, das Trio am fliegenden Trapez, die Menschenpyramide, den Seiltänzer und die Jongleure. Ich hörte die Zirkusmusik und das Knallen der Peitschen, das Hop-Hop der Artisten, wenn sie im Sägemehl Rad schlugen, und ich roch den Geruch unterm Zirkuszelt. Für das Erlebnis Zirkus wäre ich nicht bloß nach Köln, sondern quer durch Deutschland gereist.
Mit klopfendem Herzen, fürchtend, die besten Plätze könnten schon vergeben sein, stand ich Schlange vor der Kasse und empfand es als Triumph, als ich eine Logenkarte erstand. Lang vor der Zeit belegte ich meinen Platz. Als endlich die Lichter aufflammten und der Zirkusdirektor hoch auf weißem Roß in die Arena ritt, gab ich mich der Erfüllung meiner Träume hin. Ich jubelte mit Tünnes und Schäl, bangte für das Trio am Trapez, den Seiltänzer hoch überm Netz, und sah mich auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes, eines mächtigen Elefanten, und wenn der Löwe fauchend die Tatzen gegen den Dompteur hob, steigerte sich meine Bewunderung ins Grenzenlose.
Sarrasani. Jene Vorstellung in Köln im achten Jahr meines Lebens übertraf alle Erwartungen. Ich hatte Löwen und Tiger erwartet, Pferde, Elefanten und Artisten, nur sie nicht, die Seejungfer Annabella mit den strahlenden Augen und dem langen dunklen Haar. Es faszinierte mich, daß sie von der Hüfte abwärts ein Fisch und keine Frau war. Wie ein Fisch würde sie durch das Becken gleiten, in das die Arena jetzt verwandelt war, und als sie sich von der Plattform in die Tiefe fallen ließ, ich sie anmutig ins Wasser tauchen sah, war ich bezaubert.
Sie tauchte ein und schwamm im Kreis, und immer wenn sie lächelnd den Kopf hob, war mir, als täte sie das nur für mich. Weiß und lieblich zeichneten sich ihre Brüste unterm Wasser ab und ihr Haar floß überm Wasser wie ein Schleier. Nie würde ich sie vergessen können, und in jener Nacht noch und in den Nächten die folgten, glitt Annabella, die Seejungfer aus dem Zirkus in Köln, durch meine Träume.
Flughafen
San Francisco 1960
Nie zuvor hatte irgendwer meine Schuhe geputzt, von Kind an besorgte ich das selbst – im Duisburger Elternhaus, im englischen Internat, im australischen Lager, in der australischen Armee und später auch sonstwo in der Welt. Ich war bekannt für gewienertes Leder, blankes Schuhwerk, und ich kam mir seltsam vor, sehr fehl am Platz, als ich an jenem Morgen, kurz nach der Landung in San Francisco, meiner ersten Berührung mit Amerika, auf hohem Stuhl sitzend, auf den Schwarzen herunterblickte, der für billiges Geld meine Stiefel bearbeitete. Es war sehr früh noch, erst sieben, und ich war wohl sein erster Kunde. Er ließ sich Zeit, und ich hatte Zeit, und während er mit Schuhcreme, Lappen und Bürsten zu Werke ging, ein wahrhafter Jongleur seines Fachs, stellte er Fragen.
»Where are you from, Sir, and where are you headed?«
Auch dieses Sir, das er untertänig wiederholte, gab mir ein ungutes Gefühl. Er war alt genug, mein Vater zu sein, ein ergrauter Mann in zerschlissener Kleidung, die ihm am Leibe schlotterte. Ich wünschte, er möge schneller zurande kommen, damit ich meiner Wege gehen konnte. Wie lange sollte ich hier noch vor aller Augen sitzen und mich von ihm bedienen lassen. Mir war bald, als säße ich am Pranger, und da meine Stiefel längst makellos glänzten, versuchte ich, ihm klarzumachen, daß es gut sei.
»Leave off, it's fine!«
Er aber werkelte weiter – helle Creme, braune Creme, heftiges Bürsten und noch heftigeres Wienern mit knallendem Lappen. Ja, er knallte die gefalteten Lappen über das Leder, und am Ende gab er noch einen Spritzer Wasser dazu. Das Morgenlicht spiegelte sich in meinen Stiefeln.
»Leave off, it's fine!«
Er betrachtete seine Leistung und gab mir Recht. Zu mir aufblickend hielt er die Hand hin und kassierte den Lohn.
»Thank your, Sir.«
Ich stieg vom Stuhl und setzte mich auf eine Bank nahbei, um die Zeit abzuwarten bis zur Weiterfahrt im Bus nach Squaw Valley. Lange saß ich dort, ein Fremder in Kalifornien, und achtete auf die Kunden des schwarzen Schuhputzers – es waren nur zwei in mehr als einer Stunde, der Verdienst eines Dollars, aber angesprochen hatte er an die fünfzig Leute.
»Shoeshine, Mr. President, Sir!«
»Shoeshine, Mr. Governor, Sir!«
»Shoeshine, Sir Bank Manager!«
Oh, er gab ihnen allen einen Titel, hob sie samt und sonders über sich, die möglichen Kunden, und nie seitdem ist mir aus dem Sinn gegangen, wie er mir seine Dienste angeboten hatte, jener alte Mann vor dem Busbahnhof dort draußen am Flugplatz von San Francisco.
»Shoeshine, Boss – just half a dollar, Sir!«
Stadtwald
Duisburg 1939
Es hatte geschneit im Januar, heftiger als in vergangenen Jahren, und dort, wo der Weg in den Wald mündete, war er verweht. Ich sank ein beim Gehen. Unter den Bäumen aber kam ich besser vorwärts und ich erreichte das Waldhäuschen vor der Zeit. Noch war es nicht vier, doch es dämmerte schon, und die Krähe, die zwischen den Bäumen davonflog, verlor sich schnell in der Dämmerung. Ich hörte Zweige unter der Schneelast brechen und auch wie der Schnee fiel – ein Flüstern im Wald. Darüber hinaus war es still, und ich lauschte in die Stille. Bald fürchtete ich, Ruth würde nicht kommen. Es stimmte mich traurig, denn wir würden uns nicht wiedersehen. Innerlich war ich schon weit fort, war auf dem Weg nach England, und in weniger als zweimal zwölf Stunden würde es so weit sein. Immer hatten wir uns im Wald getroffen, das zurückliegende Jahr hindurch bis hin zu dem Tag der Vandalen im November. Danach war sie fortgeblieben. Zum Jahreswechsel aber schrieb sie mir eine Karte mit der Ansicht von Tannen im Schnee, und wünschte mir Glück und, daß ich sie erwarten solle, heute um Vier.
Gemessen an der zunehmenden Dunkelheit ging es auf fünf zu, und immer noch fehlte sie. Ich harrte aus, doch ehe ich in der Ferne Schritte hörte, hatte ich sie schon aufgegeben. Jetzt stand sie vor mir, im dunklen, von der Mutter ausgeborgten Mantel, ihr schwarzes Haar verborgen unterm Wollschal, und ihr Gesicht war weiß wie der Schnee. An der Art wie sie mich ansah, spürte ich, daß sie schlimme Nachricht hatte.
»Danke, daß du gewartet hast.«
Ich