Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel
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Normalerweise stellte sich bei ihm ein Gefühl für die Person ein, deren Lebensmittelpunkt er in Augenschein nahm. Diesmal schwieg sein Inneres. Vielleicht war es die Enttäuschung darüber oder einfach nur jahrelange Routine, die ihn veranlasste, die Tastatur zur Seite zu schieben. Darunter lag ein Briefumschlag. Adressiert war er nicht, er schien aber schon eine Weile in Benutzung zu sein. Mit dem Taschentuch, das Constanze nicht hatte benutzen wollen, zog er den Umschlag hervor. Der war unverschlossen und enthielt Polaroidaufnahmen. Morgenstern nahm sie vorsichtig heraus und musste schlucken. Sie zeigten ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, und einen Mann beim Sex. Das Gesicht des Mädchens war deutlich erkennbar, das des Mannes war mit einem Retuschierpinsel unkenntlich gemacht worden. Bei dem Mädchen handelte es sich eindeutig nicht um Sina. Die Physiognomie war eine andere. Behutsam steckte Morgenstern die Fotos ein. Es kam ihm so vor, als seien die Polaroidaufnahmen so platziert worden, dass sie gefunden werden sollten.
Die übrigen Räume der Wohnung erschienen ihm uninteressant. Ein weiteres Zimmer enthielt nur einen leeren Wäscheständer und ein paar zusammengefaltete Umzugskisten. Auch das Bad wirkte spartanisch, mit billigen Schränken ausgestattet und mit einer schmalen Dusche versehen.
° ° °
Wieder im Büro, fasste Morgenstern alle Erkenntnisse in einer Akte zusammen und notierte Fragen, denen nachzugehen war. Gegen achtzehn Uhr beschloss er, Feierabend zu machen. Anna Balin wartete auf ihn.
Er hatte sich angewöhnt, mit der S-Bahn zu fahren, wenn er Anna besuchte. Der anschließende Spaziergang vom Bahnhof zu ihrer Wohnung half ihm nicht nur beim Kampf gegen die Pfunde, sondern auch dabei, den stressigen Tag zu vergessen.
Nachdem er aus der Bahn gestiegen war, erwarb er einen Strauß Gladiolen, von denen er wusste, dass es ihre Lieblingsblumen waren. Das Leben auf dem Savignyplatz pulsierte. Alle schienen die warmen Tage genießen zu wollen. Touristen ließen das tagsüber Erlebte vor den Cafés und Restaurants Revue passieren und planten die Höhepunkte für den kommenden Tag. Ein paar junge Roma standen vor den Tischen und spielten mechanisch eine Melodie. Zwischendurch rief einer von ihnen »Freude« und strahlte jeden auffordernd an, dessen Blick in seine Richtung ging. Wenige lächelten zurück. Die meisten ignorierten ihn. Einige schauten demonstrativ weg. Morgenstern empfand die Musik als nervig. Er gab aus Prinzip nie Geld. Anna dagegen suchte regelmäßig einige Cent zusammen. Als sie einmal keine Münzen in ihrer Tasche gefunden hatte und er mosernd seine Brieftasche plündern musste, hatte sie gefragt, ob es ihm lieber wäre, wenn er beruflich mit diesen Jungs zu tun hätte. Er hatte nicht darauf geantwortet.
Schon im Hausflur roch Morgenstern, dass Anna etwas Neues versucht hatte. Ihre Begeisterung für das Ausprobieren von exotischen Rezepten war dafür mitverantwortlich, dass er fünf Kilo auf der Habenseite verbuchen musste. Eine Tatsache, die ihm Sorgen bereitete. Anna war eine brillante Köchin und er, zugegebenermaßen, ein williges Opfer kulinarischer Experimentierfreude.
Anna öffnete die Tür und begrüßte ihn in einem farbenfrohen Kaftan. Erfreut nahm sie ihm die Blumen ab. Ihre Umarmung war leicht, und dennoch spürte er die Wärme und die Rundungen ihres Körpers, die von dem weichen Stoff verführerisch umflossen wurden. Sie küsste ihn zur Begrüßung flüchtig auf den Mund und zog ihn aufgeregt ins Wohnzimmer. Der Tisch war exotisch gedeckt und die Dekoration bis ins kleinste Detail auf das Essen abgestimmt.
»Heute gibt es afrikanische Pasteten«, verkündete sie und machte eine einladende Geste, die seinen Blick auf schwarze Steingutteller, Holzlöffel im Giraffendesign, machetenähnliche Messer und Serviettenhalter aus Ebenholz lenkte.
Ob die schon immer Bestandteil ihres Haushalts waren, konnte Morgenstern nicht mit Bestimmtheit sagen. Er bemühte sich aber, seine fehlende Begeisterung durch ein Interesse vortäuschendes Lächeln zu kaschieren. Es gelang ihm nur unzureichend, schon allein deshalb, weil er an Insekten, Termiteneier und fette Maden denken musste, die, zu einem Brei verarbeitet, serviert wurden. Er hatte davon in einem Buch über die Essgewohnheiten eines Volkes am Victoriasee gelesen. Der Autor berichtete, wie sämtliche Dorfbewohner, mit Töpfen und Netzen bewaffnet, Moskitoschwärme jagten, um aus deren Masse Mückenburger zu braten.
Morgenstern zog das Jackett aus, reichte es Anna, schlüpfte in die Schlappen, die neben dem Tisch standen, und setzte sich auf seinen Platz. Es tat gut, hier zu sein. Dennoch fühlte er sich von so viel Fürsorglichkeit überfordert, wie des Öfteren in letzter Zeit.
»Afrikanische Pasteten? Aha, klingt fantastisch!«, bemerkte er, nahm den Ebenholzlöwen hoch, in dessen Rücken eine aufwendig gefaltete Serviette steckte, und betrachtete ihn misstrauisch. Dann stellte er ihn vorsichtig zurück. »Das schmeckt bestimmt interessant«, dachte er laut und bereute im selben Moment seine Wortwahl.
Annas Gesicht verfinsterte sich schlagartig. »Alle Zutaten sind europäisch!«, erklärte sie verärgert und verschwand mit energischen Schritten in der Küche.
Morgenstern war zu müde, um ihr zu folgen. Erschöpft von der Hitze des Tages und den düsteren Aussichten, einen Fall aufklären zu müssen, den die Presse gierig zum Stopfen des Sommerlochs ausweiden würde, goss er sich ein Glas Wasser ein. Dann betrachtete er die mit afrikanischen Motiven gestaltete Karaffe, in der Minzblätter schwammen, um den Geschmack des Wassers aufzubessern. Alles war perfekt. Zu perfekt? Er gestand sich ein, dass er den Abend auch gerne in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg bei einem kühlen Bier und mit Nichtstun vertan hätte. Annas Hinweis auf ihr Kennenlernjubiläum hatte den Gedanken jedoch schon im Ansatz verkümmern lassen. Ihre deliziöse Einladung auszuschlagen hatte sich von selbst verboten.
Er trank einen Schluck und lauschte den temperamentvollen Aktivitäten in der Küche. Noch schien Anna sich über ihn zu ärgern. Nach seiner Einschätzung handelte es sich bei diesem Stimmungsbeben höchstens um die Stufe zwei von zehn möglichen. Erfahrungsgemäß hielten derart negative Schwingungen zwei, maximal drei Minuten an. Es war ratsam, eine Zeit lang zu warten, um Nachbeben zu vermeiden.
»Du bist übrigens in der Abendzeitung. Die Presse schreibt, dass die Leiche einer jungen Frau am Märkischen Ufer gefunden wurde. Es wird gemutmaßt, dass ein Sexualverbrechen vorliegt. Kümmerst du dich darum?« Annas Frage klang so, als würde sie ihn bitten, einen Mantel aus der Reinigung zu holen oder den Dichtungsring eines tropfenden Wasserhahns auszutauschen.
»Die Ermittlungen befinden sich ganz am Anfang. Sind alles nur Mutmaßungen. Nichts Konkretes.«
Anna kam aus der Küche, legte die Zeitung neben seinen Teller und tippte auf das Foto. »Gut siehst du aus!«, bemerkte sie und strich über seine Schultern.
Er überflog den Artikel, der reißerisch geschrieben war. Eine zweifelhafte Mischung aus Abscheu und erotischem Kalkül. Sex and Crime – das bewährte Muster, um die voyeuristischen Bedürfnisse der Leserschaft zu befriedigen. Die Redaktion hatte schnell gearbeitet. Das Foto musste von jenem Paparazzo stammen, dem Anstand fremd gewesen war. Offensichtlich war es ein Leichtes gewesen, den Namen des Besitzers der Spreeschnuppe zu ermittelt. Am Nachmittag war die Pressemeldung des LKA veröffentlicht worden. Sobald bekannt geworden war, dass es sich bei der Toten um Sina Rogatz handelte, durften in manchen Redaktionsstuben Sektkorken geknallt haben. Ein Mord in der oberen Schicht der Gesellschaft. Das Loch der Langeweile war gestopft, der journalistische Sommer gerettet.
»Ich hoffe, du überführst den Kerl!«
Morgenstern schaute Anna erstaunt an. »Wen meinst du?«
»Na, Professor Unrat!