Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel

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Verschwiegene Wasser - Stephan Hähnel

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wurde ihm klar, wie absurd die Frage war. »Wohnte«, hätte er fragen müssen.

      »Sie ist nicht hier«, antwortete die Frau verunsichert.

      Morgenstern schaute auf die Namen an der Klingel. »Und Sie sind?«

      »Constanze Kilian.«

      »Kann ich Sie kurz sprechen? Es wäre angebracht, das nicht im Treppenhaus zu tun.«

      Constanze trat einen Schritt zur Seite, und noch bevor die Wohnungstür hinter Morgenstern ins Schloss fiel, fragte sie: »Ist sie tot?«

      Sie stellte die Frage so selbstverständlich, wie sich andere nach der Uhrzeit erkundigten oder danach, ob es notwendig wäre, bei bedecktem Himmel einen Regenschirm mitzunehmen.

      Morgenstern schaute sie erstaunt an. »Warum vermuten Sie das?«

      »Ich zieh mich schnell um. Setzen Sie sich in die Küche. Kaffee ist gerade durchgelaufen. Ich nehme auch einen. Milch, zwei Stück Zucker.«

      Ein paar Minuten später nahm sie die Tasse, rührte kurz um und trank einen Schluck. Sie trug ein ausgewaschenes Sweatshirt und eine Jogginghose, die gemütlich wirkte. Auch wenn ihr jetziges Aussehen die Konzentration auf das Wesentliche förderte, so bedauerte Morgenstern den Kleidungswechsel. Sobald sie am Tisch saß, fragte er: »Warum glauben Sie, dass Sina tot ist?«

      »Sie hat ständig damit gedroht – oder besser gesagt, kokettiert.« Constanze zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche. Ohne ihn zu fragen, ob er einverstanden sei, zündete sie sich eine an.

      »Wir haben ihre Leiche heute früh aus der Spree geborgen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ermordet wurde.«

      Die Frau blies den Rauch über ihre Köpfe und bemühte sich, ihre Bestürzung unter Kontrolle zu halten. Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper. Noch bevor sie die ersten Tränen vergoss, zog Morgenstern ein gebügeltes Stofftaschentuch aus seinem Jackett und bot es ihr an. Sie schüttelte den Kopf und legte die Zigarette in den Aschenbecher. Dann stand sie auf, riss ein Blatt Papier von einer Küchenrolle ab und schniefte hinein. Danach setzte sie sich zurück an den Tisch, nahm die Zigarette und wies damit auf das Taschentuch.

      »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas noch gibt. Alte Schule, oder?«

      Morgenstern antwortete nicht, steckte das Tuch aber wieder ein. »Sind Sie eine Kommilitonin von Sina?«

      »Nein, Sina ist schon seit Jahren mit dem Studium fertig. Wir teilen uns nur die WG.«

      »Wohnt noch jemand hier?«

      »Das dritte Zimmer ist nie vermietet worden. Sina und ich haben zwar darüber nachgedacht, dann aber beschlossen, uns die Kosten für die Wohnung zu teilen.

      »Darf ich fragen, was Sie studieren?«

      »Betriebswirtschaft. Noch zwei Semester, dann habe ich meinen Master.«

      »Das Studium finanzieren Sie, indem Sie sich per Webcam präsentieren?«

      Constanze schaute ihn prüfend an. »Vom Alter her könnten Sie einer meiner Kunden sein.«

      Morgenstern sparte sich einen Kommentar, auch wenn er sich fragte, warum Männer seines Alters virtuelle Frauen realen vorzogen.

      »Männer ab einem bestimmten Alter sind großzügig, wenn sie ihre Fantasien verwirklicht sehen«, beantwortete sie die Frage, obwohl er sie nicht laut gestellt hatte. »Ich habe einen festen Kundenkreis. Zehn Herren insgesamt. Der Älteste ist 78. Sie zahlen für eine Selbsttäuschung. Jeder glaubt, dass ich Gefühle für ihn empfinde.« Sie zog an ihrer Zigarette und bemerkte mit trotziger Stimme, als müsse sie sich entschuldigen: »Das ist anständig verdientes Geld.«

      »Hat Sina auch derartige Dienstleistung angeboten?«

      »Sina?« Constanze zögerte, bevor sie die Frage beantwortete. »Gut zwei Jahre. Anfänglich dachte ich, sie wollte es nur ausprobieren. Macht ausüben und so. Sina war echt talentiert darin. Dabei hatte sie es nicht so mit Männern. Auf Frauen stand sie allerdings auch nicht.«

      »Wie kommen Sie denn zu dieser Einschätzung?«

      Constanze schaute Morgenstern an, drückte ihre Zigarette energisch im Ascher aus und sagte mit einem leichten Bedauern: »Ich bekomme nicht oft einen Korb. Egal, ob von Männern oder Frauen. In Sina habe ich mich getäuscht. Sie war asexuell.«

      Morgenstern brauchte einen Augenblick, verstand dann aber. »Kennen Sie Sinas Kunden?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht ihre Namen.«

      »Bekam Sina oft Besuch?«

      »Nein, niemals.«

      »Freunde? Kollegen? Ehemalige Kommilitonen?«

      Wieder verneinte sie.

      »Können Sie mir sagen, was Sina sonst so in ihrer Freizeit gemacht hat?«

      »Freizeit war ein Fremdwort für sie. Sie verbrachte jede freie Minute in ihrer Firma. In der Nacht beglückte sie Kunden. Ein schwerer Fall von Workaholismus. Dienstags ging sie regelmäßig zur Therapie.«

      »Sie hatte eine Firma?«

      »Chromosoph. Ein Start-up. Hat sie gemeinsam mit zwei Studienfreunden gegründet.«

      Morgenstern überlegte, welche Frage er stellen wollte, bekam aber auch diesmal die Antwort, bevor er sich entschieden hatte.

      »Ich habe keine Ahnung, was Chromosoph macht. Sie tat immer sehr geheimnisvoll. Einmal erwähnte sie, dass eine Menge Geld mit ihrer Forschung zu verdienen sei.«

      »Wissen Sie, was für eine Therapie Sina gemacht hat?«

      »Wahrscheinlich so eine ›Meine-Kindheit-war-scheiße‹-Therapie.« Augenblicklich bereute Constanze die Formulierung und machte eine entschuldigende Geste. »Wem es hilft!«

      »Haben Sie die Adresse von dem Therapeuten?«

      Sie stand auf, nahm eine Visitenkarte von einem Wandbrett und reichte sie Morgenstern über den Tisch. »Doktor Bedürftiger. Kein Witz! Der Kerl heißt wirklich so.«

      »Können Sie mir sagen, warum Sina glaubte, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen?«

      »Ich weiß nicht viel über sie. Geheimnisse waren ihr Steckenpferd.«

      Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Morgenstern das Gefühl, dass er nicht die volle Wahrheit erfuhr. »Ich möchte gern Sinas Zimmer sehen.«

       ° ° °

      Sich fremde Wohnungen anzuschauen empfand Morgenstern immer als eine Verletzung der Privatsphäre. Die unbekannten vier Wände verrieten nicht nur etwas über den Geschmack und den Lebensstil der Person, die dort lebte, sondern gaben auch Details preis, die Dritten verborgen bleiben sollten. Sofort fiel Morgenstern auf, dass Sinas Zimmer mustergültig aufgeräumt war. Das Bett war gemacht, nichts lag herum, der Inhalt der Schränke war nach praktischen Erwägungen sortiert. Dann bemerkte er, dass sie auf jegliche Verschönerung verzichtet hatte. Keine Bilder, Plakate oder Fotos. Auch der Schreibtisch

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