Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel
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Morgenstern zog genervt die rechte Augenbraue hoch. »Können wir uns auf Normaldeutsch unterhalten? Wir sind nicht von der Sprachpolizei.«
Klausen starrte Morgenstern entgeistert an, als sei schon die Bitte, auf das zu verzichten, was in akademischen Kreisen als Political Correctness empfunden wurde, eine Zumutung. Mit den Jahren hatte er den Begriff der Studierenden derart verinnerlicht, dass ihm die Absurdität des zwangseingeführten Wortes nicht mehr bewusst war. Verunsichert antwortete er: »Sina gehörte zu jenen Studenten, denen das Studium leichtfiel. Und ich war einer jener Dozierenden …«, schnell verbesserte er sich, »… Dozenten, die ihr Potenzial erkannten und sie förderten. Bewundernde Worte ihrerseits auf einer Studentenparty, ein paar Gläser Alkohol zu viel, und ich war meiner Vernunft beraubt. Das ist sieben Jahre her.« Klausen hielt inne und beobachtete die Aktivitäten an Bord der Spreeschnuppe. Zwei Männer bemühten sich, die Tote möglichst vorsichtig in einen Leichensack zu legen.
»Können Sie uns sagen, was damals geschehen ist?«
Ohne den Blick von den Beamten auf seinem Schiff zu wenden, antwortete Klausen: »Abgesehen davon, dass ich mich wie ein Idiot benommen habe? Nichts! Es war ein Missverständnis. Ja, wir haben die Nacht in meinem Büro verbracht, allerdings nicht so, wie die Presse es mutmaßte. Einen intimen Kontakt gab es nicht. Sina hat ihren Rausch auf dem Sofa ausgeschlafen. Ich habe sie zugedeckt. Mehr nicht.«
Morgenstern runzelte die Stirn. Die Erklärung kam ihm wie eingeübt vor. Vielleicht lag es daran, dass Klausen sich ständig hatte verteidigen müssen. Oder er verwendete die Worte mit Bedacht, um Widersprüche in seinen Aussagen auszuschließen. »Sie hatten ein Sofa im Büro?«
»Wenn es zu spät wurde, habe ich dort geschlafen. An jenem Abend feierte die Abteilung. Uns wurden Fördermittel für die Forschung zur Verfügung gestellt. Sina hatte zu viel getrunken, und ich habe ihr in einem Anfall von Nächstenliebe meinen Schlafplatz überlassen.«
»Wo haben Sie die Nacht verbracht?«
»Auf dem Bürostuhl.« Klausen hob die Hände, um einem Kommentar vorzubeugen. »Unglaubwürdig, ich weiß! Sina behauptete ein halbes Jahr später etwas anderes.« Er starrte verbissen zur Mühlendammschleuse, vor der sich ein paar Ausflugsdampfer stauten. Dann ergänzte er verbittert: »Für die Presse war die Beschuldigung ein Seite-Eins-Thema. Renommierter Professor als Sexmonster enttarnt. Opfer läuft nackt, nur eingehüllt in ein beflecktes Laken, durch die Universität. Für die Schreiberlinge des Boulevards waren die Fotos von Sinas späterer Aktion ein ausreichender Beweis, um ihre Behauptung, missbraucht worden zu sein, als glaubhaft einzustufen.«
Morgenstern erinnerte sich an den Fall. Die junge Frau war Monate später mit dem Vorwurf, vergewaltigt worden zu sein, an die Öffentlichkeit getreten. Ihre Geschichte hatte eine Welle von Solidarität und in den Medien eine emotional geführte Diskussion, die fast schon hysterische Züge trug, ausgelöst. Fotos, die angeblich eine geschändete Frau zeigten, notdürftig mit einem Laken bedeckt, sorgten für empathische Entrüstung. Nach einiger Zeit wurden alle Vorwürfe fallengelassen. Vorher hatte eine Gruppe von Feministinnen das Laken wie die Fahne eines gestürzten Diktators unter grölendem Beifall vor der Universität verbrannt. Das einzige Beweismittel mutierte durch diese Protestaktion zu einem Heiligenrelikt. Schon damals hatte Morgenstern ein ungutes Gefühl gehabt. Wenn die Wahrheit zu einer Glaubensfrage wird, bedarf es keines Richters mehr.
»Ich mache mir nichts vor«, sagte Klausen resigniert. »Sobald die Presse Wind vom Tod Sina Rogatz’ bekommt, stehe ich erneut im Fokus.«
Morgenstern konnte dem nicht widersprechen. Besorgt fragte er sich, was da aus den Tiefen der Spree ans Licht gekommen war.
° ° °
Rudolf Peisker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Peisker Pharma AG, reagierte nicht auf das freundliche »Guten Morgen«, das ihm Luise mit einem Lächeln entgegenhauchte. Ohne die kaffeekochende Schönheit zu beachten, durchquerte er das Büro.
»Ihr Bruder konferiert gerade!«
Trotz dieser Mahnung riss er wütend die mit Leder gepolsterte Tür auf, die zum Allerheiligsten des Pharmaunternehmens führte, und marschierte in das Büro des Vorstandsvorsitzenden Alfred Peisker.
»Momentan können Sie …« Die Sekretärin beendete ihren Satz nicht. Sie sprang auf und tippelte empört hinter dem Choleriker her, einerseits um pflichtgemäß zu protestieren und anderseits um den Grund von Rudolfs Wut zu erfahren.
Von allen Vorstandsmitgliedern war Rudolf Peisker das unangenehmste. Ein Frauenheld und Despot, zynisch in allem, was er sagte, und gnadenlos, wenn es um eigene Interessen ging. Ein kräftiger, voluminöser, etwas zu klein geratener Mittfünfziger, dessen gewaltiger Stiernacken angsteinflößend war. Aus Zeitungsberichten wusste Luise, dass er an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main widerwillig Wirtschaftswissenschaft studiert hatte und seine Freizeit mit Ringen verbrachte. Ein vielversprechendes Talent, dem ein Platz in der Nationalmannschaft zugetraut worden war. Angeblich ließ eine Verletzung den Traum platzen. Hinter vorgehaltener Hand hieß es jedoch, Deutschlands Ringerhoffnung sei bei der Einnahme von Anabolika ertappt worden. Um einen Skandal zu vermeiden, hatte der Sportverband ihm ans Herz gelegt, die Karriere an den Nagel zu hängen.
Luise ahnte, Bedeutendes musste schiefgelaufen sein, wenn der Direktor fürs Grobe, wie Rudolfs Funktion im Unternehmen gern umschrieben wurde, derart kochte.
Alfred Peisker unterbrach die Ausführungen eines jungen Asiaten, der gerade vor der Gruppe stand und Zahlen einer Grafik erläuterte, und wandte sich seinem Bruder zu. »Kann ich behilflich sein?«
»Serotin!«, antwortete Rudolf Peisker, griff sich den freien Stuhl des Chinesen und ließ sich darauf nieder.
Das Gesicht des jüngeren Bruders verdüsterte sich. Er brauchte eine Weile, bis er reagierte. »Meine Herren, entschuldigen Sie uns bitte! Familienangelegenheiten. Manche Dinge erlauben keinen Aufschub. Luise, gehen Sie mit unseren Gästen in den Salon. Ich komme so bald wie möglich nach.«
Die vier Vertreter des chinesischen Unternehmens standen höflich lächelnd auf, verneigten sich, nahmen ihre Unterlagen und folgten Luise. Keiner der Herren ließ sich anmerken, dass er den Ernst der Situation verstanden hatte. Dennoch wusste der Vorstandsvorsitzende der Peisker Pharma AG, dass die Unterbrechung der Konferenz die Verhandlungen gefährdete. Sobald die Tür geschlossen war, platzte es aus ihm heraus: »Hast du sie noch alle? Es hat ein Vermögen gekostet, das Vertrauen der Chinesen zu gewinnen. Wir stehen kurz davor, uns mit dem asiatischen Markt zu arrangieren, und du platzt hier rein, als stünde eine Katastrophe bevor!«
Rudolf Peisker zog eine Kaffeekanne, die vor ihm auf dem Tisch stand, zu sich. Er schüttelte sie leicht und flüsterte bedrohlich: »Nah dran, Alfred! Wirklich nah dran!« Etwas ratlos suchte er nach einer unbenutzten Tasse. Als er keine fand, beschloss er, den Inhalt der vor ihm stehenden in eine andere zu gießen. Bedächtig füllte er sie anschließend halb voll mit frischem Kaffee. Bevor er an ihr nippte, ergänzte er süffisant: »Serotin hat Nebenwirkungen. Das Labor in Hanoi meldet, ein Proband sei in der letzten Nacht in eine Klinik eingeliefert worden. Die Testperson ist kollabiert. Womöglich hirntot. Fünf weitere Probanden liegen auf der Intensivstation.«
Alfred Peisker starrte seinen Bruder entsetzt an und richtete den Blick verzweifelt auf die Statistiken, die der Beamer an die Wand warf. »Das hat mit uns nur marginal zu tun«, entschied er dann, nahm die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus.
»Wir haben Vietnam-Medical beauftragt,