Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel
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»Na, dann wollen wir mal!«, flüsterte aufgeregt der Dickere der beiden, den der Auftraggeber mit der wenig schmeichelnden Beschreibung »Riesenbaby« angekündigt hatte. Ein pizzafressender Computernerd. Sein feistes Gesicht war hinter einer grauen Sturmhaube versteckt. Nervös schaltete der aufgeblähte Kerl sein Smartphone ein. Wenige Sekunden fehlten, dann war es drei Uhr. Die ersten Mitarbeiter würden frühestens in fünf Stunden ihre Rechner hochfahren. Bis dahin waren die beiden schon wieder verschwunden.
»Ausmachen, sofort!«, schnauzte ihn der andere, der sich Kolja Rudenko nannte, an. Sein osteuropäischer Akzent verriet, dass er kein Muttersprachler war. Die Muskelpakete, die eindrucksvoll seinen Pullover ausfüllten, waren das Ergebnis jahrelangen Trainings. Rudenko hasste es, mit Amateuren zusammenzuarbeiten. Schon von dem Moment an, als der Fleischberg in den Transporter eingestiegen war, sich als Kevin Beimler vorgestellt und so getan hatte, als würden sie einander seit der Kindheit kennen, war der Typ ihm suspekt. Augenblicklich begriff Rudenko, dass der zweite Teil des Auftrags unausweichlich war. Der fette Kerl war ein Schwätzer.
Rudenko, dessen Gesicht ebenfalls hinter einer grauen Sturmmaske verborgen war, öffnete leise die Schiebetür des Transporters und ergriff einen Werkzeugkoffer. Mit einem Blick, der den Profi verriet, untersuchte er das Schloss am Nebeneingang, das ihnen den Zugang zum Firmengelände verwehrte, und rümpfte verächtlich die Nase. Er entnahm dem Koffer ein zylinderförmiges Gerät und steckte zwei flache, nadelähnliche Spitzen in den Schlüsselkanal. Er drückte einen Knopf, und der Mechanismus fing an zu vibrieren. So in Schwingungen geraten, verkeilten sich die Stifte im Schließbolzen, und die Eingangstür ließ sich öffnen.
Beimler klatsche sich begeistert auf die Oberschenkel. Er gluckste vor Freude und hielt sich eine Faust vor den Mund. Es war sein erster Einbruch. Um sich zu stärken, hatte er die halbe Nacht damit verbracht, Pillen einzuwerfen, die angeblich helfen sollten, die Nervosität einzuschränken. Das Zeug sorgte aber nur dafür, dass er sich euphorisch fühlte. Erneut überkam ihn ein infantiles Lachen. Rudenko reagierte gereizt und deutete unmissverständlich an, dass er ihm gleich eine verpassen würde. Beimler nahm das nicht sonderlich ernst. Er folgte dem Ukrainer in gebührendem Abstand, wobei er sein Gesicht albern verzog.
Ihr Ziel war der Keller. Ein paar Stufen führten zu einem Notausgang, den Eisengitter vor unbefugtem Zutritt schützten. Auch hier bereitete Rudenko die Tür keine Schwierigkeit. Ein Gang, über den verschiedene Lagerräume zu erreichen waren, durchzog das Gebäude. Der Serverraum befand sich neben der Treppe, die zu den Büroräumen in den oberen Etagen führte. Die stählerne Tür war mit einem elektronischen Nummernschloss gesichert. Beimler streckte die Arme aus und machte ein paar alberne Übungen, um seine Finger zu lockern. Aufgeregt kicherte er erneut und tippte wie wild auf den Nummernblock ein. Ein Signal meldete unmissverständlich, dass die eingegebene Kombination falsch war.
»Ups! Muss ein anderer Zahlencode sein«, stellte er mit ernster Miene fest und beobachtete amüsiert den Ukrainer, der kein Verständnis für Witzeleien hatte.
Mit einem Schraubenzieher öffnete Beimler schließlich die Verkleidung des Nummernschlosses und legte vorsichtig die Kabel frei. Routiniert schloss er an diese zwei Klemmen an, die zu einem Datenlogger führten. Auf dem Display des Geräts erschienen Zahlenkolonnen. Es dauerte eine Weile, bis die vollständige Kombination ermittelt war.
Geschickt baute er die Verkleidung wieder an und tippte den Code ein. Die Tür öffnete sich.
»Halleluja!«, verkündete Beimler pathetisch, während er wie ein Herrscher die Regale abschritt, bis er jenen Rechner fand, dem er Manieren beibringen sollte.
Das System ließ sich von außerhalb nicht hacken. Eine Sicherheitssoftware wehrte jeden Angriff ab und verhinderte konsequent nichtautorisierte Zugriffe. Eine Unhöflichkeit, die der Auftraggeber mit »mangelnden Manieren« umschrieben hatte. Als Beimler den Server entdeckte, drehte er sich tänzelnd im Kreis und gab glucksende Laute von sich, wie Kleinkinder es zuweilen aus Freude tun, wenn sie ein Kuscheltier geschenkt bekommen. Er zog ein weiteres Mal sein Smartphone aus der Tasche und machte ein Selfie mit dem Objekt ihres Interesses.
Rudenko schaute auf die Uhr und zog die Stirn kraus. »Ich möchte nicht länger hier sein als unbedingt nötig.«
Der Computernerd verdrehte theatralisch die Augen. »Los, komm mit aufs Bild!«
»Es ist besser, du fängst sofort an!«
»Sei kein Spielverderber! Eine kleine Erinnerung für später«, erklärte Beimler und ergänzte mit gespielt altersschwacher Stimme: »Weißt du noch, damals, als wir uns in der eisigen Winternacht Zugang zum Allerheiligsten verschafft haben? Ach, hätte ich doch auf dich gehört!«
Rudenko hatte die Nase voll und verpasste dem Fleischberg eine Ohrfeige.
Beimler fuhr über die sich rötende Wange. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Spinnst du?«, stieß er gerade noch hervor, da fing er sich einen weiteren Schlag ein, diesmal mit der Rückseite von Rudenkos Hand. Beimlers Unterlippe platzte auf. Er hatte den Hieb nicht einmal kommen sehen. Ein Wimmern war zu hören. Er schmeckte Blut. Trotzig bäumte er sich auf und machte einen Schritt nach vorn, beide Hände ausgestreckt, als wäre das ein Spiel. Fangen oder Haschen. Seine Größe und Masse sowie die eingeworfenen Pillen ließen ihn glauben, etwas gegen den gedrungenen Ukrainer ausrichten zu können. Der nächste Schlag, ein Fausthieb, traf seine Nieren. Er bekam keine Luft mehr.
Rudenko wusste genau, was er tat. Er hatte es gelernt, in jener Spezialeinheit Berkut, die auf dem Maidan in Kiew für Ordnung gesorgt hatte. Seitdem sie aufgelöst worden war, arbeitete er als Freelancer auf eigene Rechnung. Das Wissen darüber, wie man das Selbstbewusstsein eines Menschen erschütterte, war Teil seiner Ausbildung gewesen. Er schlug erneut zu, diesmal traf er Beimlers Leber. Das Riesenbaby klappte zusammen und stützte sich auf dem Boden ab. In seinen Augen spiegelte sich Panik wider. Schützend hielt er sich die Arme vors Gesicht.
Der ehemalige Berkut-Polizist konnte die Angst riechen, die aus jeder Pore des Nerds dünstete. »Fünfzehn Minuten! Brauchst du länger, erkennt dich deine Mami nicht wieder.«
Das Riesenbaby nickte. Plötzlich fühlte Beimler sich nicht mehr euphorisch. Mit zittrigen Händen zog er sein Notebook aus dem Rucksack und schloss ein Kabel an den Server an. Verzeichnisse erschienen. Kryptische Zahlenfolgen. Endlich fündig geworden, startete er ein Tool, das der Auftraggeber ihm hatte zukommen lassen. Es enthielt einen Trojaner, den er im Sicherungsverzeichnis der Firma speichern sollte. Ein weiteres Programm, das dafür sorgte, dass der Server abstürzte, sobald der erste Mitarbeiter am Morgen den Rechner anschaltete, kopierte Beimler in den Arbeitsspeicher. Beim Neustart des Systems würde es gelöscht werden. Keine Spuren, die sich verfolgen ließen. Das Sicherheitssystem schrieb in solchen Fällen ein Back-up vor, um die Daten vor Viren oder anderen Bedrohungen zu schützen, stattdessen verbreitete sich der Trojaner direkt auf alle Rechner des Unternehmens. Beimler hatte keine Ahnung, worum es ging. Wahrscheinlich Industriespionage. Was immer diese Firma entwickelte, jemand interessierte sich dafür. Die Inhalte der Festplatten würden an eine kryptische Adresse gesendet werden – Russland, China, irgendeine Insel. Still und unbemerkt.
Zu Hause hatte Beimler den Quellcode studiert. Obwohl er kein Neuling in der Hackerszene war, hatte er ein filigraneres Konstrukt als diesen Trojaner noch nie gesehen. Auch wenn seine innere Stimme ihm geraten hatte, die Finger von dem Programm zu lassen, einen Befehl hatte er heimlich modifiziert. Mit Daten ließ sich gutes Geld verdienen. Was immer der Auftraggeber begehrte, Beimler würde es auch auf seinem Rechner sehen. Jetzt, wo er Zugang zum System hatte, war es kein Problem mehr, den Befehl später wieder zu löschen, um keine Spuren zu hinterlassen.