Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Verschwiegene Wasser - Stephan Hähnel страница 6
Sein Bruder runzelte die Stirn. »Keine, die wir nicht unter dem Stichwort ›übliche Nebenwirkungen‹ listen könnten. Eine, gelinde gesagt, großzügige Interpretation.«
Schweigen erfüllte das geräumige Büro im obersten Stockwerk der Firmenzentrale mit dem traumhaften Blick auf die Gedächtniskirche.
Alfred Peisker stand auf und trat an die Fensterfront. Konzentriert beobachtete er den Platz vor der Kirche, auf dem Händler, Touristen und Taschendiebe ihr Tagwerk begannen. »Die Verantwortung liegt bei Vietnam-Medical«, entschied er und setzte sich wieder auf den Chefsessel. »Die Verträge sind wasserdicht. Niemand wird uns verklagen. Du machst dir unnötig Sorgen. Wir sind nicht für Fehler Externer verantwortlich.«
Erstaunt lehnte sich Rudolf Peisker zurück. Er ließ seinen Kopf kreisen, was an jene Zeit erinnerte, da er vor sportlichen Wettkämpfen zum Aufwärmen Übungen absolviert hatte. Konkurrenten zum Aufgeben zu zwingen, wenn er sie in eine aussichtslose Lage manövriert hatte, gehörte noch heute zu seinen bevorzugten Übungen. Langsam beugte er seinen gewaltigen Oberkörper über den Tisch, als gedachte er, jeden Moment einen Würgegriff anzuwenden. »Bist du so naiv? Hier geht’s nicht um Schmerzensgeld oder Abfindungen. Zur Erinnerung, du hast in einem Interview mit Financial Times erklärt, der Wirkstoff Serotin sei das Gottesteilchen der Pharmazie. Was glaubst du, wer du bist? Der Einstein der Pillendreher? Wenn wir nicht sofort handeln, wird jeder halbwegs begabte Journalist den Artikel ausgraben. Die Presse wird an deine großmundige Ankündigung erinnern. Von wegen, die Peisker Pharma stehe vor einem gigantischen Durchbruch in der Familienplanung! Die Höhe der Abfindungen machen mir keine Sorgen. Dass jemand bei den Tests zu Tode kam? Kann passieren! Aber sobald publik wird, dass wir ohne offizielle Genehmigung Medikamententests veranlasst haben, werden die Behörden uns auf die Finger schauen. Sie werden Fragen stellen, Unterlagen prüfen, das ganze Prozedere beleuchten. Du weißt, woher die Forschungsergebnisse stammen. Sollte ein Zusammenhang aufgedeckt werden, dürfte unsere Aktie ins Bodenlose fallen, und wir werden wieder zum günstigen Übernahmekandidaten. Serotin ist unsere letzte Chance! Das macht mir wirklich Sorgen.«
Alfred Peisker begann, die Tragweite des Ganzen zu begreifen. Er war blass geworden und brauchte einen Moment, bevor er die richtige Frage stellte. »Was können wir tun?«
»Jemanden beauftragen, der vor Ort die Probleme löst, eventuelle Fragen in die gewünschte Richtung lenkt, Geld in hungrige Mäuler stopft, eine Person, die überzeugend ist.«
»An wen hast du gedacht?«
»Doktor Solvig Bormann.«
»Ist nicht dein Ernst?«
»Die Bormann ist geil darauf, Karriere zu machen. Ein Master mit Auszeichnung in Vertragsrecht. Zweitstudium Biochemie. Ihren Doktor hat sie auf dem Gebiet des Patentrechts für den biotechnologischen Bereich erworben. Die feilt sich die Zähne, wenn es sein muss. Wir schicken sie nach Hanoi und stellen ihr einen Vorstandsposten in Aussicht. Ganz nebenbei ist das auch noch gut für die beschissene Gleichstellungsquote.«
»Ist sie nicht ein bisschen jung?«
»Wir brauchen jemanden, der unverbraucht, sympathisch und glaubwürdig rüberkommt. Das nimmt man ihr ab. Wichtiger noch, sie ist knallhart. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.«
»Solvig Bormann?«
Rudolf zeigte seine strahlend weißen Zähne.
Sein kleiner Bruder wusste, was das bedeutete. »Hast du sie gebumst?«
Der ehemalige Ringer lachte laut, als hätte er einen guten Witz gehört. »Das war mir nicht vergönnt. Nur ein paar Fotos mit meinem Smartphone, beim täglichen Rapport, unterm Schreibtisch. Kurzer Rock, jeden Tag ein anderer Slip. Manchmal gar keiner. Hat sie dummerweise bemerkt.«
»Rudolf, du bist ein Schwein. Sexuelle Belästigung – genau das brauchen wir jetzt noch!«
Erneut gab Rudolf Peisker ein beherztes Lachen von sich, das Stolz und Verachtung zugleich ausdrückte. »Brüderchen, das läuft unter Konzeptkunst. Wie gesagt, die Süße kann knallhart verhandeln.«
Alfred Peisker dachte nach. Sicherlich, es würde sie einiges kosten. Die Vietnamesen würden sich ihr Schweigen teuer bezahlen lassen. Aber wenn alle vernünftig waren, ließ sich das Ärgernis noch unter den Teppich kehren. Rudolfs Idee klang gut. Solvig Bormann verfügte über die fachliche Kompetenz, war, was Rechtsfragen anging, gut aufgestellt. Und offensichtlich verstand sie etwas davon, heikle Situationen vorteilhaft auszunutzen und nicht gleich in Panik zu verfallen. »Kläre du das! Nichts Offizielles. Du und ich treten nicht in Erscheinung. Ich muss mich um unseren Partner in Asien kümmern. Die Schlitzaugen sind ziemlich clever.«
° ° °
Nach einer ersten Beratung im LKA und der Verteilung der Aufgaben verschwand Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern in seinem Büro. Er setzte sich auf seinen Stuhl und sinnierte über die wenigen Erkenntnisse, die sie bisher erlangt hatten.
Gegen jede Gewohnheit hatte auch der Leiter des LKA 1, Max Herting, an der Beratung teilgenommen. Seit Tagen geisterte das Gerücht durch die Gänge, dass der Chef der Berliner Mordkommissionen seinen Eintritt in den Ruhestand verschieben wolle. Selbst Atheisten neigten unter diesen Umständen unweigerlich dazu, himmlischen Beistand zu erbitten. Vergeblich! Tatsächlich verkündete Herting stolz, dass er sich bereit erklärt habe, weitere zwei Jahre die Geschicke der Abteilung zu führen. Hoch motiviert drohte er, die an dem Fall arbeitenden Beamten mit seiner jahrelangen Erfahrung zu unterstützen. Bei einigen führte diese Ankündigung fast schon zu Panikattacken.
Alle waren sich darüber einig, dass es keinen Grund gab, Mathias Klausen vorläufig festzunehmen. Vorerst galt der Kapitän der Spreeschnuppe nicht als tatverdächtig. Offiziell wies ihm die Akte den Status eines Zeugen zu. Dem ehemaligen Professor eine Fluchtabsicht zu unterstellen wäre nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen absurd.
Dennoch machte sich Morgenstern Sorgen, die er weder beschreiben noch mit Argumenten stützen konnte. Seine Berufserfahrung oder eine unbestimmte Ahnung, die sich aus den ungewöhnlichen Begleitumständen des Falls nährte, war der Grund dafür. Sina Rogatz war nicht irgendein Opfer. Ihr Vater Walter Rogatz war eine schillernde Persönlichkeit, deren Investmentunternehmen weltweit Niederlassungen besaß – Berlin, New York, London, Barcelona, Istanbul, Neu-Delhi und Kapstadt waren die wichtigsten. Seine Holding war an diversen Unternehmen beteiligt und investierte beträchtliche Summen in lukrative Immobilien.
Dass die Leiche seiner Adoptivtochter unter dem Ausflugsdampfer jenes geschassten Professors gefunden worden war, der Jahre vorher in Verdacht geraten war, sich an ihr vergangen zu haben, schien bedenklich. Die Tote sollte gefunden werden, und selbstverständlich sollte die Kriminalpolizei über diesen Zusammenhang stolpern. Das war offensichtlich, fand Morgenstern. Mit den Jahren hatte er zwei Dinge verinnerlicht. Erstens: An Zufälle konnte man glauben, nur taugten sie in der Realität nicht als Antwort. Zweitens: Alles hing mit allem zusammen, wie bei einem Schachspiel. Alle Figuren verhielten sich auf dem Spielfeld wie Magneten, zogen einander an oder stießen einander ab. Ein neuer Zug konnte schlagartig dazu führen, dass sich die gesamte Konstellation veränderte.
Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Morgenstern das Gefühl, dass jemand versuchte, die Ermittlungen zu manipulieren. Männliche Intuition nannte er das mit einem Schmunzeln und brachte damit regelmäßig Anna Balin, seine Lebensgefährtin, zum Lachen.
Ein