Cantata Bolivia. Manfred Eisner

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Cantata Bolivia - Manfred Eisner

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über den unerwarteten Fund gehen die drei zum letzten Mal in den Speisesaal des Schiffes, um zu frühstücken.

      Die Matrosen der Conte Biancamano haben die Rettungsboote von den Davits in die rauen Pazifikwellen herabgelassen, wo sie nun an ihren Festmacherleinen wild hin und her schwojen. Auch die seitlich von der Bordwand heruntergelassene Gangway schwankt meterhoch im Wellengang auf und ab. Trotz der redlichen Bemühungen des Schiffspersonals, die länglichen Ruderkähne einigermaßen ruhig zu halten, gelingt den meist verängstigten Passagieren nur mit großen Schwierigkeiten der rechtzeitige und gezielte Sprung in die Boote. Vor Schreck steht Clarissa wie versteinert im letzten unteren Viertel der mächtig wogenden Gangway und hält sich krampfartig an dem Seitenreep fest. Ein beherzter Matrose nimmt sie wie eine Feder in die Arme und springt mit ihr hinüber in das wankende Boot. Zwei seiner Kollegen tun das Gleiche mit Lissy und Oliver. Als das Boot komplett ist, greifen sechs Matrosen zu den Riemen und rudern mit geballten Kräften gegen die starke Dünung gen Hafenpier.

      Mit den eigenen Lastkränen des Schiffes werden Koffer, Kisten und Gepäck der Passagiere auf größere Lastkähne verladen. Gerade als Oliver zum Schiff zurückblickt, sieht er deutlich, wie einer ihrer Seekoffer aus dem Hebenetz schlüpft, über Bord geht und auf nimmer Wiedersehen im Stillen Ozean versinkt. „Mami, da, da sieh mal, unser Koffer ist ins Wasser gefallen!“, meldet er aufgeregt. Clarissa ist zu angespannt, um in diesem Augenblick von Olivers Meldung Notiz zu nehmen. Mit einer Hand hält sie sich am Boot fest, mit der anderen klammert sie Lissy an sich, bis sie schließlich heil an der Hafenpier angelangt sind und hilfreiche Hände ihnen auf das feste Land unter den Füßen helfen.

      Nach dieser derart aufreibenden Anlandung versammeln sich zunächst alle Passagiere in einer sehr geräumigen Zollhalle am Bahnhof von Arica, wo sie nach Erledigung der Einreiseformalitäten Ausschau nach ihrer Habe halten. Clarissa sucht aus der gewaltigen Anhäufung von Gepäckstücken die eigenen Schiffs- und Handkoffer heraus und lässt diese mit Hilfe von mit Handkarren bewaffneten Gepäckträgern an einer Sammelstelle deponieren. Lissy und Oliver sitzen geduldig auf einem der Schiffskoffer, bis die drei Handkoffer und die nunmehr nur noch zwölf großen Gepäckstücke eingesammelt sind: Oliver hatte sich nicht getäuscht, einer ihrer Schiffskoffer ist tatsächlich verloren gegangen.

      Während sich die Zollhalle nach und nach leert, sucht Clarissa händeringend nach einem Zollbeamten, der ihre Koffer zur Beladung in den Zug freigeben soll. Sie ist sehr aufgeregt, ihr Gepäck steht fast als Letztes noch ohne Abfertigung da und die ungeduldig lauten Pfeifsignale der Lokomotive, die zur Abfahrt mahnen, sind nicht zu überhören. Schließlich klappt auch dies:

      „Keine Angst, Señora, Ihr Zug fährt erst dann ab, wenn das gesamte Gepäck aufgeladen worden ist“, versichert ihr der freundlich lächelnde Zollbeamte in fließendem Deutsch. Dann signalisiert er einem der Träger, die drei Handkoffer auf seine Karre aufzuladen, nimmt die beiden Kinder an die Hand und begleitet sie und Clarissa zum Bahnsteig. Mit einem Blick vergewissert sie sich, dass inzwischen auch ihre Seekoffer dort angelangt sind und in einen der Frachtwaggons am vorderen Ende des Zuges verladen werden. Mit einem zackigen Gruß an den Schirm seiner Dienstmütze verabschiedet sich der nette Zollbeamte und wenig später rollt der mit lauter Immigranten hoffnungslos überfüllte Zug langsam aus dem Bahnhof von Arica.

      Glücklicherweise finden Clarissa und die Kinder das für sie reservierte Schlafwagenabteil, das sie sich mit zwei älteren Damen teilen. Eine der beiden stellt sich als Fräulein Roth vor und nimmt sich besonders nett der kleinen Lissy an.

      Die 486 Kilometer lange, eingleisige Engspur-Bahnstrecke zwischen dem chilenischen Meereshafen Arica und Boliviens größter Stadt, La Paz, bedarf normalerweise einer Fahrzeit von zweieinhalb Tagen und zwei Nächten. Sie läuft zunächst kilometerweit quer durch die Atacama-Wüstenebene und entlang einiger endloser Salzseen. Später klettert sie mühsam hinauf bis zu dem 4.000 Meter über Meereshöhe gelegenen Pass, mitten durch die mit ewigem Schnee bedeckten Fünftausender der mächtigen Anden. Danach führt sie entlang der Altiplano-Hochebene und schließlich etwa 400 Meter in die Talsenke hinab, in der die Stadt La Paz zu Füßen des mächtigen und wunderschönen, mit ewigem Schnee bedeckten Berges Illimani liegt.

      In den Frühstunden des nächsten Reisetages, irgendwo inmitten der bereits aufgeheizten und trockenen Geröllwüste, passiert es: Ein heftiger Ruck erschüttert den gesamten Zug, ein lautes Quietschen auf den Schienen, dann stehen die Waggons still. Durch den Bruch eines der Vorderräder der altersgestressten Dampflok ist diese entgleist und in eine tiefe Kuhle hinabgeglitten. Nun liegt sie rechts neben dem Bahndamm auf der Seite. Der beim Entgleisen tödlich verunglückte Lokführer ist das einzige Opfer, das zu beklagen ist, denn – Glück im Unglück – beim Sturz der Lok bricht deren Kupplungszapfen zum ersten Waggon, sodass der Rest des Zuges aufrecht auf den Gleisen stehen bleibt.

      Die meisten Reisenden, so auch Clarissa und Oliver, so plötzlich aus dem Schlaf gerissen, springen erschrocken aus den Waggons auf den recht viel tiefer gelegenen Bahndamm. Jene wenigen Erlesenen, welche die besondere Gunst eines Schlafwagens genießen, sind meist barfuß und im Schlafanzug oder Nachthemd. So rasch, wie sie vom Waggon heruntergesprungen sind, klettern sie mühsam auch wieder hinauf, denn der sandige Boden des Bahndammes ist von den unbarmherzigen Sonnenstrahlen bereits gleißend erhitzt. Eilig hebt Clarissa Oliver wieder in den Waggon und klettert selbst hinterher. Sie gehen in ihr Abteil zurück. Lissy hat von alledem nichts bemerkt und schläft noch friedlich in ihrer Koje.

      Während des Tages steigt die Temperatur auf über 40 Grad Celsius und in den Waggons wird es sowohl für die Passagiere als auch für das Bahnpersonal unerträglich heiß. Nach kurzer Zeit sind Getränke und auch das Trinkwasser versiegt, weit und breit ist in der immensen Wüstenei kein Schatten zu entdecken. Auch die Speisereserven im Restaurantwaggon sind wegen des Ansturms bald erschöpft. Erst als sich die Sonne gegen Nachmittag dem Horizont nähert, unternehmen zwei Schaffner den weiten, mühevollen Fußmarsch zur nächstgelegenen Station, um Hilfe anzufordern. Eine brauchbare telegraphische Verbindung gibt es hier nicht mehr, denn immer wieder werden die Kabel entlang der Bahnstrecke von Dieben geklaut. Die große Hoffnung einiger Passagiere auf rasche Abhilfe wird vom Zugführer jäh gedämpft: Es wird wohl mindestens noch einen weiteren Tag dauern, bis eine neue Lok aus dem über 300 Kilometer entfernten La Paz zu Hilfe herankommt.

      Gegen Abend, als Clarissa die Kinder wieder ins Bett bringt, bemerkt sie, dass Olivers Kopf ungewöhnlich heiß ist. Etwas später wacht er auf und klagt über heftige Bauchschmerzen. Zudem hat er starken Durchfall. Gerade noch schafft es Clarissa, ihn zur bereits sehr übel stinkenden Toilette zu bringen. Aus ihrem Köfferchen holt sie ein Thermometer, das kurz darauf fast 39 Grad Fieber anzeigt. Sie erfährt, dass im dritten Schlafwagen ein Arzt sei, und holt diesen – sein Name ist Dr. Blumberger – herbei. Er untersucht Oliver und tastet Bauch und Magen ab. „Die ganze Abdominalgegend ist irgendwie verhärtet, Sie sollten baldmöglichst einen Arzt aufsuchen. Ich gebe Ihnen ein Schmerzmittel, damit der Junge erst mal zur Ruhe kommt.“ Dr. Blumberger überreicht Clarissa ein kleines Fläschchen. „Geben Sie ihm, solange er wach ist, stündlich zehn Tropfen.“

      Die bittere Medizin verhilft Oliver zu einem ruhigen Schlaf. Auch die übrigen Passagiere im Abteil verbringen eine erholsame Nacht, denn der nächtliche Temperatursturz in dieser Gegend ist beachtlich und bringt endlich die ersehnte Abkühlung. Unbemerkt von den Passagieren macht sich die Zugbesatzung in der kühlen Dunkelheit an die Bergung der Leiche des verunglückten Lokführers. Sie wird in eine Plane gehüllt und in einen der Frachtwaggons verbracht.

      Am nächsten Morgen gibt es für alle nur ein karges Frühstück: einen Becher Tee und ein halbes, vertrocknetes Stück Weißbrot – wohl die letzten schäbigen Reste aus dem Bordrestaurant. Bald brennt die Sonne wieder gnadenlos vom azurblauen, wolkenlosen Himmel herab und verbreitet abermals eine schier unerträgliche Hitze.

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