Cantata Bolivia. Manfred Eisner
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Nur langsam vergehen die Stunden. Das Warten auf die Ersatzlok wird immer verzweifelter. Eine Frau mittleren Alters ist offensichtlich mit ihren Nerven am Ende und schreit laut umher: „Wozu habe ich mich vor den Nazis gerettet, um hier, inmitten dieser verfluchten Einöde, elendig zu verrecken?“ Dr. Blumberger gibt ihr eine Beruhigungsspritze.
Mehrmals am Tage muss Oliver sich von seinem Durchfall erleichtern. Gegen Abend erhöht sich seine Temperatur abermals und Clarissa gibt ihm wieder die vom Arzt erhaltenen Tropfen. Zum Abendmahl „servieren“ die Schaffner diesmal jedem eine Tasse Nudelsuppe – man hat noch etwas sauberes Trinkwasser aus dem Tank der verunglückten Lokomotive abzapfen können –, die von allen gierig verschlungen wird. Gekocht wurde im Freien, auf dem offenen Feuer, das mit den Kohlen aus dem Tender gespeist wurde. Früh legen sich alle zur Ruhe. Es gibt nicht einmal mehr elektrisches Licht – die Batterien sind leer.
Kurz nach Mitternacht wacht Clarissa von dem lauten Pfeifen einer Lokomotive auf. Die lang ersehnte Rettung ist endlich da! Langsam schiebt sich die Lok an den ersten Waggon des Zuges heran. Die gebrochene Kupplung wird notdürftig repariert und nach ungefähr einer weiteren Stunde setzt sich der Zug sanft in Bewegung.
Gegen Morgen, während die ersten Passagiere in dem an der letzten Haltestelle mit neuem Proviant versehenen Bordrestaurant frische Frühstücksbrötchen sowie gebratenen Schinken mit Rührei zusammen mit dem frisch gebrühten Kaffee genießen, schnauft sich die Lok langsam zu den hoch gelegenen Anden hinauf.
* * *
Als Josef Rembowski seinen Freund und Geschäftspartner Heiko Keller etwa ein halbes Jahr vor der soeben geschilderten abenteuerlichen See- und Bahnreise Clarissas bereits am Bahnhof von Viacha, zwei Stationen vor La Paz, überraschend in dessen Schlafwagenabteil des Zuges, der ihn aus Buenos Aires herangebracht hat, aufgetaucht war, hatten die beiden natürlich unendlich viel Gesprächsbedarf, um sich gegenseitig, wenigstens mit dem Wichtigsten, auf den neuesten Stand zu bringen. Die beiden sind von ihrer frühen Kindheit an zusammen in Oldenmoor aufgewachsen und im Laufe der Jahre enge Freunde geworden. Es war schließlich auch Josef, der Heiko, Clarissa und deren Kinder die Einreise nach Bolivien ermöglicht hat.
Seit seiner Geburt in Polen leidet Josef körperlich und seelisch wegen seines verwachsenen Fußes. Als er in Oldenmoor um die Holstenhof-Tochter Frauke Eggers warb, wurde ihm die Verbindung mit seiner Geliebten seitens deren Eltern, vorwiegend durch den extrem nationalsozialistisch eingestellten Vater, sowohl wegen der „undeutschen“ Herkunft als auch seines körperlichen Makels in übelster Art und Weise verwehrt. Deshalb ist Josef zusammen mit seiner Verlobten bereits vor eineinhalb Jahren zunächst nach Saarbrücken und von dort aus nach Paris verzogen, wo sie bei der Hutmacherin Françoise, Fraukes Cousine, untergekommen sind. Josef hat eine überraschend größere Erbschaft seiner Tante, eine gut gehende Bäckerei im polnischen Lodz, gewinnbringend verkauft und den Erlös in amerikanische Dollar umgewandelt. Diese wurden auf einem Konto in den USA deponiert. Mit diesem soliden finanziellen Guthaben gab es für Josef und Frauke keine Hindernisse, an ein bolivianisches Einreisevisum heranzukommen. Die einzige Auflage war, dass sie sich nach ihrer Ankunft der Landwirtschaft zu widmen hätten. Eine Sondergenehmigung zur Errichtung einer Bäckerei hat Josef gegen Zahlung eines Sonderbonus dem bolivianischen Konsul in Bordeaux auch noch abgerungen.
In La Paz angekommen, haben Frauke und Josef zunächst standesamtlich geheiratet. Mit Glück fanden sie ein großes Haus mit mehreren Zimmern, Innenhof, Küche und Bad in einer kleinen Sackgasse, die von der Avenida Ecuador im Nobelviertel Sopocachi abgeht. Josef und Frauke mieteten es und tauften es wegen seiner Außenfarbe auf den Namen „Casa Azul“ – „Blaues Haus“. Sie nahmen sich vor, darin einigen der so zahlreich in Bolivien eintreffenden Flüchtlinge eine erste Bleibe zu bieten. Durch Zufall wurden sie kurz darauf fündig und erwarben eine Hacienda, ein landwirtschaftliches Gut, das zum Verkauf stand. Es befindet sich in der subtropischen Region der Yungas, etwa 80 Kilometer von La Paz entfernt. Dort sind auch einige der von den Rembowskis unterstützten Flüchtlinge untergekommen, die noch dazu ihre Erfahrung in der Landwirtschaft einbringen konnten, etwas, woran es Josef in der ersten Zeit mangelte. Die Flüchtlinge verdienten sich ihren Lebensunterhalt auf der Hacienda, indem sie emsig beim Aufbau eines langsam, aber sicher Ertrag bringenden Agrarunternehmens mithalfen.
Etwa ein Jahr später zogen Frauke und Josef hinüber in eine kleine, möblierte Villa direkt gegenüber der Casa Azul. Sie gehörte einer französischen Dame, Madame Isabel, Ehefrau von Señor René Adrian senior, ein erfolgreicher Warenimporteur, der ständig auf Geschäftsreise war. Madame Isabel wohnte mit ihrem Mann und dem Söhnchen René junior, den sie liebevoll „Pirulo“ nennen, in einem größeren Einfamilienhaus nebenan, in dem auch ihr Atelier untergebracht war. Sie war Hutmacherin und konnte Fraukes Hilfe in ihrem kleineren stilvollen Salon sehr gut gebrauchen, da diese beim Parisaufenthalt bei ihrer Cousine Françoise von dieser gründlich in die ersten Schritte dieses Metiers eingeführt worden war. So entwickelte sich nach und nach „Maison Isabel“ zu einer bekannten Adresse für jene gehobene Schicht der modebewussten La Pazer Damenwelt.
* * *
Nachdem Heikos Zug von El Alto in ausgedehnten Schleifen langsam den Abhang bis zur Estación de Trenes in La Paz überwunden hat und dort endlich im Bahnhof eingefahren und zum Halten gekommen ist, steigen er und Josef aus. Heiko verabschiedet sich von seinem Abteilgefährten, dem sympathischen Herrn Aaron Levy, mit dem er während der viertägigen Überfahrt sehr angenehme und interessante Gespräche führen konnte. Nachdem Heiko von Josef seine neue Adresse erfahren hat, tauschen die beiden Herren ihre Anschriften aus und verabreden ein baldiges Wiedersehen.
„Langsam, langsam, lieber Amigo, du befindest dich hier immer noch auf 3.800 Meter über dem Meer. Hier ist die Luft sehr dünn und du und dein Körper müssen sich erst allmählich darauf einstellen“, mahnt Josef den voreiligen Heiko, der geschwind nach seinem Gepäck sehen will. „Außerdem ist es hier nicht üblich, sein Gepäck selbst zu tragen, dafür sind die Cargadores da. Sieh mal, dort.“ Er deutet auf einen bizarr in weißes Rohleinenhemd und Hose gekleideten, dunkelhäutigen Einheimischen – ein Indio mit einem bunten Poncho und einer mit Ohrenklappen versehenen Zipfelmütze aus braun-weiß gefärbter Lamawolle auf dem Kopf. Er trägt einen riesigen Schiffskoffer huckepack, den er mit einem grob gegerbten, rauen Rindlederseil befestigt hat, welches über seiner Brust straff verknotet ist. In raschen kleinen Schritten auf seinen mit ausgedienten Autoreifen besohlten Sandalen folgt der Lastenträger einer in einem weiten, ausladenden Faltenrock gekleideten, ebenso dunkelhäutigen Frau, die sich einen fein gewebten Umhang über die Schultern geworfen hat und einen eigenwillig geformten, festen Filzhut trägt. „Dies ist eine der hiesigen Mischlingsfrauen, eine Chola“, erklärt Josef. „Du wirst dich noch auf so manche Eigenart der heimischen Bevölkerung einstellen müssen. Aber nun lass uns erst einmal dein Gepäck holen.“
Nachdem der Träger Heikos beide Handkoffer in dem Kofferraum von Josefs Auto – es war ein schmucker Packard Sedan Modell 1933 – verstaut und Josef ihm ein paar Münzen in die Hand gedrückt hat, fahren sie hinunter in die Stadt.
Im Vorbeifahren gewinnt Heiko die ersten Eindrücke von