Cantata Bolivia. Manfred Eisner

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Cantata Bolivia - Manfred Eisner

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Zufällig trafen sich eines Tages Heiko und sein einstiger Zugabteilgefährte, Herr Levy, mittags am Prado, wo viele Emigranten den Zwölf-Uhr-Nachrichten aus aller Welt lauschen, die das Regierungsradio Illimani täglich über Lautsprechern sendet. Als bei der darauf folgenden Unterhaltung Olivers Schulproblem zur Sprache kam, bemerkte Herr Levy: „Sehen Sie dort hinüber, auf die andere Straßenseite, Herr Keller. Dort, das gelbe Eckhaus. Darin befindet sich neben unserer Synagoge auch die jüdische Schule, die öffentlich anerkannte Escuela Boliviano-Israelita. Ich habe mich nach meiner Ankunft sofort bei der jüdischen Gemeinde gemeldet und bin dort bereits in der Verwaltung tätig geworden. Wenn Sie möchten, könnte ich Sie mit dem Schuldirektor, Herrn Dr. Arthur Bamberger, bekannt machen, vielleicht kann er Ihnen behilflich sein. Wissen Sie, viele jüdische Kinder, die hier eingetroffen sind, befinden sich in der gleichen oder in einer ähnlichen Lage wie Ihr Oliver.“ Heiko bedankte sich und sicherte ihm zu, ihn nach Rücksprache mit mir wieder darauf anzusprechen.

       Ich mache mir Sorgen um unsere Lieben zu Hause. Die Nachrichten über den furchtbaren Krieg, die uns tagtäglich hier erreichen, sind von Mal zu Mal erschreckender. Auch Frankreich wurde von der Wehrmacht besiegt, Paris ist in deutscher Hand und Hitler soll auch dort gewesen sein. Die französischen Generäle haben schon im letzten Monat kapituliert. Die dem Land zu Hilfe gekommenen britischen Streitkräfte wurden über Belgien bis ans Meer gejagt und konnten noch in letzter Minute von eigenen Schiffen aus Dünkirchen evakuiert werden.

       Aus Oldenmoor selbst erfahren wir aber so gut wie nichts. Bolivien verhält sich zwar bis jetzt noch neutral, man hat, wohl wegen der vielen Deutschen, die hier leben und ziemlich großen Einfluss in der Wirtschaft und Politik haben, es von Regierungsseite vermieden, bisher in diesem Weltkonflikt Partei zu ergreifen. Dennoch existiert der Postverkehr mit Europa praktisch nicht mehr. Wir haben mehrfach versucht, Briefe an die Eltern zu schicken. Bisher haben wir aber nie eine Antwort erhalten. Wie mag es ihnen gehen? Ich bin jedes Mal furchtbar traurig, wenn ich an zu Hause denke.

       Ich mache für heute Schluss, meine Hand ist schon ganz steif vom langen Schreiben.

       Heute brachte Heiko zwei guten Nachrichten mit nach Hause: Oliver darf ab Montag zur Schule gehen und besucht die erste Klasse der Escuela Boliviano-Israelita. Nachdem das von Herrn Levy vermittelte Gespräch mit dem Rektor, Dr. Arthur Bamberger, stattgefunden hat, muss Oliver das gesamte bisher gelehrte Pensum – in Spanisch schreiben und lesen sowie rechnen – möglichst rasch nachholen. Heiko wird mit ihm das Sprachliche und ich das Rechnen üben, am besten gleich nach der Schule und an den Wochenenden. Armer Junge! Ihm stehen harte Zeiten bevor, aber er könnte es mit unserer Unterstützung schaffen. Das alltägliche Spanisch mit Pirulo geht ihm ja schon leicht von den Lippen. Sollte er allerdings das Jahrespensum nicht schaffen, müsste er das Jahr wiederholen, doch das wäre nicht so schlimm! Übrigens, die Schulen hier sind ganztägig, die Kinder kommen aber zum Mittagessen nach Hause. Also von Montag bis Freitag zwei Mal täglich zur Schule und zurück. Arme Kinder!

       Und noch etwas Besonderes haben wir erfahren: Der jüdische Religionsunterricht findet in deutscher Sprache statt, da der Lehrer, Synagogenkantor Leopold Bremer, fast kein Spanisch, sondern nur Deutsch spricht. Er erteilt den Kindern auch Musikunterricht. Heiko fragte mich, ob ich denn etwas dagegen hätte, wenn Oliver am jüdischen Religionsunterricht teilnähme. Ich bin selbstverständlich damit einverstanden, schließlich kann es nicht schaden, wenn der Junge von Anfang an mit dem Alten Testament vertraut ist – ich wünschte, ich hätte auch eine solche Gelegenheit gehabt. Obwohl Heiko nach wie vor die Zugehörigkeit zu einer Religion kategorisch ablehnt, hat er ebenfalls nichts dagegen, denn er meint, auch dies gehöre unbedingt zur Allgemeinbildung.

       Übrigens, für Lissy haben wir mit Frau Adrians Hilfe einen Platz in einem Kindergarten bekommen. Dieser gehört zu einem Waisenheim. Sinnigerweise trägt es den Namen „La Gota de Leche“ – „Der Milchtropfen“. Allerdings ist es etwas weit von unserer Casa Azul entfernt, befindet sich aber gleich neben der Endstation der Straßenbahnlinie Nr. 2, die zudem direkt an unserer Hauptstraßenecke hält. Ich habe erfahren, dass man hier für Kleinkinder vergünstigte Zehnerkarten erhält. In den ersten Wochen werde ich Lissy aber persönlich begleiten.

       Die zweite gute Nachricht betrifft Heikos Arbeit. Da das Vorhaben mit dem eigenen Betrieb nur schleppend voranschreitet, hat Heiko mit dem bolivianischen Patrón einer hiesigen, mittelgroßen Bäckerei, Señor Espinoza, vereinbart, bei diesem als angestellter Bäckervorarbeiter anzufangen. Nach und nach will er dann mit dem Backen von deutschen Brotsorten beginnen und erst einmal sehen, wie diese einschlagen, bevor er und Josef in ein teureres, eigenes Unternehmen investieren. Die Bezahlung ist alles andere als üppig, denn die hiesigen Arbeitslöhne sind eher Hungerlöhne, aber es macht ihm nichts aus, sagt Heiko, es ist wenigstens ein Einstieg und bringt zumindest ein wenig Taschengeld.

       Um die unter der hiesigen Bevölkerung bestehenden, sehr krassen Einkommensunterschiede wenigstens optisch ein wenig zu kaschieren, müssen alle Schülerinnen und Schüler an den öffentlichen Primarschulen im Unterricht einfache, weiße Kittel tragen. Also sind auch wir verpflichtet, unsere Kinder hiermit ausstatten.

       Frauke machte den Vorschlag, Josef solle Oliver, Lissy und mich mit dem Auto zum Bekleidungsladen des Herrn Simon Dziubeck fahren. Er ist ein polnischer Jude, mit dem sie kurz nach der Ankunft in La Paz Bekanntschaft gemacht haben. Zum großen Spaß der Kinder fuhren wir also in Josefs Limousine in die Stadt. Als wir die Flaniermeile, den Prado, passierten, sagte Josef zu Oliver: „Sieh, dort, das gelbe Haus, darin befindet sich deine Schule.“ Im Vorbeifahren fielen mir das emporragende Gebäude der Tageszeitung „La Razón“ sowie das beachtenswerte Kolumbus-Monument aus weißem Marmor auf, das Heiko neulich bei einem Gespräch erwähnte.

       Am Ende des Prados fuhren wir noch etwa 800 Meter weiter geradeaus, dann kamen wir an der mächtigen Barockkirche San Francisco an und bogen nach links ab in die steil ansteigende Calle Sagárnaga, die inmitten eines Viertels liegt, das fast ausschließlich von Indios bewohnt wird. Josef musste im Schritttempo fahren, weil die große Zahl Fußgänger nicht nur auf den Gehwegen, sondern vorwiegend mitten auf der Fahrbahn lief, offensichtlich total unbekümmert – der Autoverkehr habe gefälligst zu warten!

       Herr Dziubeck empfing uns sehr freundlich am Eingang seines Geschäftes, ein unendlich langer Gang, an dessen beiden Seiten Unmengen von Anzügen und anderen Kleidungstücken an Garderobenhaken und Bügeln hingen. Josef und der Ladeninhaber unterhielten sich angeregt auf Polnisch, was den Kindern sonderbar vorkam. Ich musste ihnen den Grund erklären. Dann wandte sich der nette Herr Dziubeck Oliver und Lissy zu und meinte: „Dann woll’n wir mal seihen, ob wir ebbes für die siessen Kinderlach finden.“ Wir folgten ihm bis ans Ende seines Gewölbes, wo er einem Regal einen Stapel weißer Schulkittel entnahm. Die Kinder probierten herum, bis beide je zwei passende Stücke gefunden hatten. Als ich diese bezahlen wollte – Heiko hatte mir Geld mitgegeben –, sagte Herr Dziubeck: „Nein, nein, behalten Sie nur Ihr Geld. Is far mir a Mitzwe. Es soll sein mit Masel, damit die siessen Kinderlach a gite Shul’ haben werden.“

       Ich dankte ihm sehr gerührt. Auch die Kinder bedankten sich, Lissy drückte ihm sogar einen Kuss auf die Wange. Ich habe mich auch redlich bemüht, hier die halb deutsch, halb jiddische Ausdrucksweise des Herrn Dziubeck wiederzugeben.

       * * *

      Als sie sich im Auto auf dem Nachhauseweg befinden, fragt Clarissa Josef, ob er wüsste, was Herr Dziubeck mit dem ihr unbekannten Wort „Mitzwe“ gemeint habe. „Ich bin mir ja auch nicht so sicher, aber sinngemäß, muss es eine religiöse Vorschrift der Juden sein, etwas Gutes zu tun – oder so ähnlich. Simon ist ein sehr religiöser Mensch, und er ist stark in der jüdischen Gemeinde engagiert. Ach ja, ich muss noch mit Heiko sprechen. Dziubeck hat mich nämlich heute gefragt, ob die Bäckerei Espinoza nicht vielleicht die La Pazer Juden an jedem

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