Cantata Bolivia. Manfred Eisner

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Cantata Bolivia - Manfred Eisner

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Gebäude mit in allen Farben gestrichenen Wänden und er sieht eine unendliche Schar von dunkelhäutigen Passanten in ihrer außergewöhnlichen Kleidung. Fasziniert betrachtet Heiko eine asthmatisch anmutende elektrische Straßenbahn, die mühevoll eine steile Straße emporklimmt.

      Zutiefst gerührt von der Wiedersehensfreude umarmen sich kurz darauf Frauke und Heiko mit feuchten Augen. Frauke erwartet sie zur Begrüßung mit einem schmackhaften Mittagessen. Danach begleiten sie und Josef Heiko über die enge Straße hinüber in die Casa Azul, wo sie für ihn und die hoffentlich bald nachkommende Clarissa samt Kindern bereits eines der Zimmer eingerichtet haben.

       * * *

      Als der Zug in einer Höhe von etwa 4.000 Metern über Meereshöhe die Grenze zwischen Chile und Bolivien bei Charaña überschreitet, erfolgt hier die Passkontrolle. Bei mehreren Reisenden stellen sich bereits Atembeschwerden ein. Die Schaffner verteilen ein probates Mittel der Einheimischen gegen dieses Unwohlsein, den sogenannten Soroche, einen heißen Mate de Coca, ein Aufguss aus jenen Cocablättern, die von den andinen Indios ständig gekaut werden. Auch auf Oliver übt der Trunk vorübergehend eine die quälenden Bauchschmerzen lindernde Wirkung aus. Dennoch ist sein Fieber bereits auf besorgniserregende 39,7 Grad gestiegen und Dr. Blumberger greift zur Notbremse, indem er dem Jungen Chinintabletten verabreicht.

      Als der Zug gegen Abend des nicht enden wollenden vierten Reisetages in die Station von Viacha einfährt, überraschen plötzlich Heiko und Josef Clarissa und die Kinder in ihrem Schlafwagenabteil. Unendlich groß ist die Wiedersehensfreude, viele Küsse und Umarmungen folgen. Der arme Oliver kriegt in seiner Fiebertrance kaum etwas mit. Er wackelt mit dem Kopf auf dem Kissen hin und her und murmelt: „Papilein, mein lieber Papilein ist wieder da!“ Während Heiko bei seiner Familie bleibt, steigt Josef gerade noch rechtzeitig aus dem Zug und fährt mit seinem Auto geradewegs nach La Paz voraus, um für die ärztliche Versorgung Olivers zu sorgen.

      Als der Zug dann endlich im Bahnhof von La Paz einfährt, ist Josef mit der geräumigen Limousine zur Stelle. Rasch sind Handgepäck und Reisende eingeladen. Während sie hinunter in die Stadt fahren, beruhigt Josef Clarissa und Heiko, die sich um den stöhnenden Oliver Sorgen machen. „Ich habe Dr. Salomon, einen Emigranten, benachrichtigen lassen, er wird morgen früh kommen, um Oliver zu behandeln. Und um euer großes Gepäck kümmere ich mich ebenfalls gleich morgen früh, ihr müsst mir dafür aber die Frachtpapiere geben.“ Es ist schon spät in der Nacht, als die Kinder in der Casa Azul in ihren Betten liegen und Heiko und Clarissa in ihrer neuen Heimat endlich ein wenig zur Ruhe kommen. „Träume etwas Schönes, Prinzessin“, murmelt Heiko seiner Frau leise ins Ohr. „Du weißt ja: Was man in der ersten Nacht in seinem neuen Bett träumt, wird wahr.“ Clarissa hört diese Worte nicht mehr. Erschöpft ist sie in Heikos Arm eingeschlafen.

       2. La Casa Azul

       Zwei Monate später, im Juli 1940

      Clarissa, die inzwischen das Küchenregiment in dem mit sechzehn Personen voll belegten Haus führt, hat zusammen mit ihren beiden Gehilfinnen, Sara Kahn und Ruth Kovacs, den umfangreichen Abwasch bewältigt. Sie cremt die von der ihr noch ungewohnten, harten Küchenarbeit geröteten und etwas wund gewordenen Hände mit Melkfett ein. Dann setzt sie sich an den großen Tisch im Esszimmer, an dem sonst alle Bewohner der Casa Azul gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen.

      Seit ihrer Ankunft in La Paz hatte sie noch keine Gelegenheit, ihre sonst übliche Unterhaltung mit dem geliebten Tagebuch zu führen. Zu viele Ereignisse sind in dieser Zeit auf sie eingestürzt und sie hat nun allerhand nachzuholen. Clarissa legt sich das Tagebuch zurecht, zieht den inzwischen vertrockneten Füllfederhalter mit der von Heiko gestern mitgebrachten Tinte auf und legt in freudiger Erwartung auf das, was sie nun zu Papier bringen wird, los:

       Liebes Tagebuch, es ist so viel passiert, seit ich die vorangehenden Seiten geschrieben habe. Es war Lissys fünfter Geburtstag, der Tag, an dem wir endlich in Arica von Bord der MN Conte Biancamano gingen, oder, besser gesagt, von starken Matrosenarmen in die wild umhertanzenden Ruderboote getragen wurden. Ich war erstarrt vor Schrecken und Angst. All das kommt mir auch heute noch wie ein aufbrausender Traum vor, von dem ich erst wieder allmählich erwachte, als wir endlich an Land waren. Dann kam die Aufregung wegen der Verladung des ganzen Gepäcks. Oliver hatte zwar bemerkt und mir zugerufen, dass einer unserer Schiffskoffer ins Wasser gefallen sei, doch ich nahm das erst in der Zollhalle wahr. Zur Besinnung kam ich erst wieder, als wir endlich im fahrenden Zug waren.

       Dann, mitten in der Nacht, das entsetzliche Entgleisen der Lokomotive. Der arme Lokführer kam dabei ums Leben. Schließlich die schlimmen, endlosen Wartestunden in der Wüstenhitze, ohne Wasser und ordentliches Essen! Ich kann mir nicht helfen, mir kam doch der Gedanke, dass die bösen Geister, vor denen wir aus Deutschland geflohen waren, uns noch weiter verfolgten. Offensichtlich hat Klein Lissy, Gott sei Dank, die Strapazen ohne seelische und körperliche Kratzer überstanden, leider aber nicht unser lieber Oliver, der unterwegs ganz plötzlich von starken Bauchschmerzen, Durchfall und hohem Fieber befallen wurde. Ich bin Dr. Blumberger ewig dankbar dafür, dass er uns in der Not half. Er riskierte dabei so manches, da er ja hier noch nicht als Arzt zugelassen ist! Ich kann nur hoffen, dass niemand ihn verpetzt.

       Jedenfalls besuchte uns schon am Morgen nach der Ankunft der Arzt Dr. Salomon – von dem ich etwas später erfuhr, dass er zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls noch keine bolivianische Zulassung hatte. Dieser untersuchte Oliver und stellte die Diagnose, der Junge leide unter akuter Blinddarmentzündung und müsse umgehend operiert werden. Er verständigte daraufhin sofort die Klinik des Chirurgen Dr. Aparicio in der Avenida Arce. Heiko und Josef, der inzwischen auch schon etwas Spanisch spricht, verhandelten mit der Klinik, in die Oliver zwei Tage später eingeliefert wurde, wo er am darauf folgenden Tag seinen Blinddarm nebst zwei weiteren Drüsen, die den Operateuren auffällig erschienen, opferte. Mein armer Liebling litt noch während einer weiteren Woche unter den Operationsschmerzen, aber wenigstens waren sowohl das Fieber als auch der hartnäckige Durchfall besiegt.

       Nachdem Oliver vom Krankenhaus zurück nach Hause gekommen war, brauchte er noch etwa zwei Wochen, um sich von dem schweren Eingriff zu erholen. Er war vollkommen abgemagert und musste erst wieder zu Kräften kommen. Langsam kehrte auch etwas Farbe in seine blassen Wangen zurück. Lissy und er verstehen sich prima und spielen unbeschwert miteinander. Die Sackgasse, der Callejón Ecuador, in der sich unsere Casa Azul befindet, wird kaum von Autos befahren, und so sind die Kinder an der Luft und unter der zumeist scheinenden Sonne ungefährdet. Inzwischen haben Frau Adriáns Sohn, der ein Jahr jüngere Pirulo, Lissy und Oliver nähere Bekanntschaft gemacht und Freundschaft geschlossen und die drei Kinder spielen auch öfter im Garten des Hauses. Erstaunlich ist, dass Oliver und Lissy jeden Tag mit neuen spanischen Wörtern nach Hause kommen – erfreulich, wie sie diese im Fluge aufnehmen.

       Unser jetziges Zuhause teilen wir mit einem Dutzend weiteren, ebenso wie wir hier gestrandeten Leuten. Dieses geräumige Blaue Haus, das Josef uns so großzügig kostenlos zur Verfügung stellt, umfasst acht unterschiedlich große Zimmer, wovon der größte und zentrale Raum, der einerseits direkt mit der Küche verbunden ist und dessen lang gezogene Front zum Innenhof zeigt, uns allen als Speisesaal dient. Unsere Mitbewohner sind durchweg von Hitlers Rachsucht kunterbunt zerstreute Menschen, von denen wir als einzige die ungarische Familie Samuel, Ruth und Moses Kovacs bereits aus Oldenmoor kennen. Auch ihnen half letztlich Josef, aus Nazi-Deutschland zu entkommen, und bot ihnen hier als Erstes diese Unterkunft.

       Inzwischen ist es Schuhmacher Kovacs gelungen, eine Arbeitsstelle an der Ledernähmaschine beim Koffermacher Freudenthal zu bekommen, worüber er natürlich sehr glücklich ist. Mein ehemaliger Grundschüler, sein Sohn Moses, ist jetzt sechzehn Jahre

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