Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon
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Einen etwas anderen Ansatz vertritt die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist: „Ziel der Kunst ist es, zur Evolution beizutragen, die Hirnkapazität zu erweitern, eine objektive Sicht auf die soziale Entwicklung zu garantieren, positive Energien zu erzeugen, Vernunft und Instinkt miteinander zu versöhnen, Klischees und Vorurteile zu zerstören.“1
Bringen wir’s zum Schluss auf den Punkt, wie der Yello-Musiker und Künstler Dieter Meier. Er findet: „Art reaches parts of my mind, other things don’t.“ Also: „Kunst erreicht Teile meiner Seele, die andere Dinge nicht erreichen.“
Abb. 1: Diese Malereien wurden 1994 in den Höhlen von Chauvet in Frankreich entdeckt. Sie sind etwa 30.000 Jahre alt und zählen zu den ältesten Zeugnissen für künstlerisches Schaffen.
1|2 Ursprünge
Immerhin stimmen doch einige der genannten Zitate darin überein, dass Kunst etwas mit dem Menschen zu tun habe. Und in der Tat reicht ihr weites Feld in seiner zeitlichen Dimension bis zu den Ursprüngen der Menschheit zurück2. Zu den ältesten Zeugen menschlichen Kunstschaffens zählen etwa die Pferde in den Höhlen von Chauvet in Frankreich. Diese Malereien sind rund 30.000 Jahre alt. Sie wurden einst für rituelle Zwecke geschaffen, um die Jagd günstig vorzubereiten. Historisch gesehen gehen die Anfänge der Kunst also bis in die Altsteinzeit zurück.
In seiner räumlichen Ausdehnung erstreckt sich das Kunstschaffen über die ganze Welt. Überall da, wo der Mensch ist oder wo er als denkendes Wesen seine Spuren hinterließ, trifft man auf Kunst.
Abb. 2: Joseph Benoît Suvée (1743 – 1807) Dibutade oder Die Entdeckung der Malerei, 1793 Öl auf Leinwand, 131,5 x 267 cm Groeningemuseum Brügge
Allerdings nicht immer in der Gestalt von Bildern, die man an die Wand hängen kann, sondern einmal als Verzierung auf einem Gebrauchsgegenstand, als Schmuck, ein andermal als kultisches Gerät. Kunst ist also eng mit dem Menschen verknüpft, dessen Schöpferkraft Grundbedingung für ihre Entstehung ist. Oder anders gesagt: Ohne Mensch keine Kunst. Interessant wäre sicher auch die Frage, ob die Umkehrung dieses Satzes ebenso Gültigkeit hat. Kann man die Behauptung wagen ohne Kunst kein Mensch? Wir wollen uns hier nicht in philosophischen Gedanken verlieren, sondern diese Frage einfach im Raum stehen lassen. Vielleicht finden Sie im Verlauf Ihrer Auseinandersetzung mit Kunst Ihre ganz persönliche Antwort dazu.
Die Anekdote zum Thema: Laut Plinius dem Älteren (1. Jahrhundert nach Chr.) gehen die Ursprünge der Malerei auf eine Liebesgeschichte zurück: So musste Dibutade, ein Mädchen aus Korinth, von ihrem Geliebten Abschied nehmen. Bevor er sie verließ, machte sie ein Bildnis von ihm, indem sie seinen Schattenwurf an der Wand nachzeichnete.
1|3 Kunst kommt (nicht) von Können
„Das könnte ich auch!“ Eine häufig geäußerte Reaktion von Menschen, die sich mit moderner Kunst konfrontiert sehen. Mit dieser Bemerkung meinen sie nicht etwa, dass sie selbst künstlerisch tätig sind. Nein, sie wollen damit andeuten, dass unmöglich Kunst sein kann, was sie als Laien auch zustande bringen würden. Kunst ist für sie etwas, das nicht jeder kann, etwas, das eine überragende Fertigkeit erfordert. Kunst kommt für sie von Können. Und tatsächlich haben sie recht!
Kunst hatte ursprünglich die Bedeutung von Können. Das lateinische Wort ars, das wir gemeinhin mit Kunst übersetzen, bezeichnete nämlich in der Antike ganz allgemein eine Fähigkeit, Fertigkeit oder gar eine Wissenschaft. Das galt auch im Mittelalter. So meinte das mittelhochdeutsche Wort kunst ein Wissen, eine Geschicklichkeit oder aber eine Erleuchtung. Im engeren Sinne wurde also die Vervollkommnung eines Handwerks, wie beispielsweise der Buchmalkunst, aber auch einer Fähigkeit, etwa der, Reden zu halten (Redekunst oder Rhetorik), oder sogar die Kriegführung als Kunst aufgefasst. Bezeichnenderweise konnotiert der Begriff nun aber auch die Bedeutung von Wissenschaft und Erleuchtung. Das sind zwei interessante Aspekte, die im Kapitel Keine Kunst ohne Künstler noch aufgegriffen werden.
Abb. 3: Hans Holbein d. J., Heinrich VIII. ca. 1539/40, 88,2 x 75 cm Tempera auf Holz Palazzo Barberini, Rom
Notabene: Seit dem Altertum kannte man die sieben freien Künste, also die septem artes liberales, bestehend aus Rhetorik, Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Astrologie, Geometrie und Musik. Sie ermöglichten dem freien Mann (deshalb freie Künste) den Zugang zum eigentlichen Studium. Malerei und Bildhauerei sind nicht aufgeführt. Sie gehörten zu den praktischen Künsten, den sogenannten artes mechanicae. Sie dienten dem direkten Broterwerb und wurden deshalb als niederer als die freien Künste eingestuft.
Im Mittelalter wurden Malerei, Bildhauerei und Architektur in der Regel vom Kollektiv einer Bauhütte oder einer Malschule ausgeführt. Eine zentrale Rolle kam den Skriptorien, den Schreibstuben der Klöster, zu, wo in Gemeinschaftsarbeit großartige Kunstwerke der Buchmalkunst geschaffen wurden. Mit dem Aufstieg der Städte im ausgehenden Mittelalter entwickelten sich dann die „praktischen Künste“ zunehmend im Rahmen des Zunftwesens. Obwohl die Zünfte und ihre Mitglieder gesellschaftlich angesehen waren, war man dann in der Renaissance bemüht, die Malerei gegenüber den freien Künsten intellektuell aufzuwerten. Bildnerisches Schaffen sollte fortan der Musik oder Dichtkunst ebenbürtig als freie Kunst wahrgenommen werden. (vgl. Kapitel Der Künstler).
Notabene: Der deutsche Maler Hans Holbein d. J. (1498 – 1543) erhielt 1520 durch Heirat die Gelegenheit, der Basler Malerzunft „Zum Himmel“ beizutreten. Das verschaffte ihm so lukrative Aufträge wie die Ausmalung des Großratssaales im Basler Rathaus (1521) und indirekt eine Karriere im Ausland. 1523/24 arbeitete er für den französischen König, 1532 verließ er Basel für immer, um Hofmaler Heinrichs VIII. von England zu werden. Dort porträtierte er nicht nur den König und drei seiner insgesamt sechs Ehefrauen, sondern auch zahlreiche andere Prominente aus Adel und Wissenschaft.
Eine weitere Facette des Kunstbegriffs erschließt sich aus der Bedeutung des mittelhochdeutschen Wortes künstlich, das zunächst klug, geschickt oder kenntnisreich meinte. Bald aber wurde künstlich auch im Sinne von „von Menschenhand geschaffen“ verwendet und dem Begriff natürlich gegenübergestellt. So übernahm das Gemälde als geschicktes Abbild der Natur eine wichtige Informationsfunktion in einer Zeit, als es noch keinen Fotoapparat gab. Kunstwerke entstanden also etwa, um der Welt oder Nachwelt Macht und Aussehen Heinrichs VIII. zu demonstrieren, um das Vergnügen spielender Kinder festzuhalten (vgl. Brueghel, Kapitel Genremalerei), sie entstanden beim Versuch, ein besonders dekoratives Arrangement von Früchten oder Blumen möglichst naturnah abzubilden (vgl. Kapitel Stillleben) oder eine schöne Landschaft wiederzugeben (vgl. Meindert Hobbema, Kapitel Landschaft), aber auch, um die Bombardierung der Stadt Guernica 1937 im Spanischen Bürgerkrieg zu dokumentieren (vgl. Picasso, Kapitel Historienmalerei). Aus diesen verschiedenen Bedürfnissen des Abbildens entwickelten sich im Lauf der Zeit die Kunstgattungen Porträt, Genre, Landschaft, Stillleben und Historie.
1|4 Imagination, Idee, Originalität