Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon
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Das bringt uns zu weiteren Kriterien dessen, was Kunst ausmacht, nämlich zu Imagination, Idee und Originalität des Künstlers. Gerade diese Dimensionen gewannen im Laufe der Jahrhunderte die Vorrangstellung über die eigentliche Kunstfertigkeit und erreichten 1917 einen Höhepunkt. In jenem Jahr nämlich wollte der französische Künstler Marcel Duchamp unter dem Pseudonym R. Mutt ein Pissoir mit dem sprechenden Titel Fontaine in einer New Yorker Ausstellung zeigen. Das Objekt wurde zwar von der Jury – der auch Duchamp selbst angehörte – abgewiesen, später aber mehr als rehabilitiert: Bis heute gilt es (beziehungsweise Fotos und Repliken davon) als ein Schlüsselwerk moderner Kunst.
Abb. 4: Marcel Duchamp (signiert R. Mutt) Das Original Fontaine 1917, fotografiert von Alfred Stieglitz
Notabene: Ein Pissoir soll Kunst sein? Kein Wunder, denken Sie jetzt vielleicht, dass ich damit nichts anfangen kann. Und in der Tat ist es, seit Kunst auf diese und andere Weise scheinbar ad absurdum geführt wurde, nicht einfacher geworden, sie zu verstehen. Allerdings: Vieles wird plausibel, wenn man die Zusammenhänge der Zeit und die Vita des Künstlers berücksichtigt.
Tatsächlich dominieren Idee und Originalität in der Gegenwartskunst gelegentlich auf unangenehme Weise. Was man heutzutage als Kunst betrachtet – und das muss sich nicht unbedingt mit dem decken, was man in hundert Jahren dafür halten wird –, bestimmt eine Gruppe von Insidern und wird für eine solche produziert. So jedenfalls sehen es viele Kunstkritiker. Glauben wir ihnen, dann ist für den Laien Kunst, und insbesondere die moderne Kunst, zunächst ein Buch mit sieben Siegeln. Damit er überhaupt entscheiden kann, ob ihm ein Kunstwerk zusagt, benötigt er Aufklärung, die ihm nur durch Experten zuteilwerden kann.3 Das tönt nach Exklusivität seitens der Kunst und nach Anstrengung und Aufwand vonseiten des Publikums. Doch lassen Sie sich dadurch nicht einschüchtern. Sie werden im nächsten Kapitel eine Methode kennenlernen, die es Ihnen ermöglicht, mit der Kunst – selbst der Gegenwartskunst – fertigzuwerden.
Das Zitat zum Thema: Der französische Bildhauer Auguste Rodin (1840 – 1917) war jemand, der der Originalität durchaus skeptisch gegenüberstand. „Die Originalität, wie sie das große Publikum versteht, existiert nicht in der hohen Kunst. Die Künstler, die nicht Geduld genug haben, um zu dem wirklichen Talent vorzudringen, ergeben sich dem Bizarren, der Absonderlichkeit des Themas oder den Formen ohne Rücksicht auf die Wahrheit. Und das nennen sie dann Originalität, aber das hat gar keinen Wert.“4 Ob sich seine Kritik auf Duchamps Fontaine bezog, entzieht sich meiner Kenntnis.
1|5 Der Kunstmarkt
Wer ganz nüchtern und schnörkellos wissen will, was Kunst ist, liest am besten die Zeitung. Allerdings nicht den Kultur-, sondern den Wirtschaftsteil. Denn der Kunstmarkt ist zu einer nicht zu vernachlässigenden Determinante von Kunst geworden. Er offeriert Experten wie Laien ein allgemein verständliches Bewertungskriterium: den Preis. Seit den 1980er-Jahren ist ein Kunstboom zu verzeichnen, der auch durch zwei Krisen nicht wesentlich geschmälert werden konnte. Kunstwerke sind als Investitionsgüter bei privaten und öffentlichen Anlegern nach wie vor sehr gefragt. Gerade in Zeiten volatiler Finanzmärkte suchen Investoren vermehrt nach sicheren Alternativen. Tatsächlich hat sich der Kunstmarkt in den letzten zehn Jahren als relativ stabil erwiesen. Seit dem gewaltigen Aufschwung, den die Branche in den Jahren von 2004 bis 2007, dank immenser Bonuszahlungen der Banken, erlebte, wird sie gar mit dem Goldmarkt verglichen. Auch die Zukunft sieht rosig aus, denn die Zahl finanzstarker Investoren aus den aufstrebenden Wirtschaftsmächten Brasilien, Russland, Indien und China ist am Wachsen und drängt auf den Kunstmarkt. Man stelle sich vor: Über 800.000 Dollarmillionäre und 128 Milliardäre wurden 2010 allein für China ermittelt. Die großen Auktionshäuser, die eigentlichen Umschlagplätze für Kunstwerke, verzeichnen denn auch eine Verschiebung der Kunstmarktzentren weg von den traditionellen Kunstnationen England und den USA nach Hongkong.5
Immer neue Rekorde werden von Auktionshäusern wie Sotheby’s oder Christie’s gemeldet. 1987 sorgten Vincent van Goghs Sonnenblumen noch für Schlagzeilen, als sie bei einer Auktion die Rekordsumme von 24,75 Millionen Pfund einbrachten. 2010 machte der marschierende dem rauchenden Mann den Titel des teuersten Kunstwerks streitig: Alberto Giacomettis Schreitender Mann I übertrumpfte den ehemaligen Spitzenreiter, Pablo Picassos Garçon à la pipe, nur um kurze Zeit später wieder von einem Picasso auf Platz zwei verwiesen zu werden6. Die Preise hatten mittlerweile die Grenze von 100 Millionen US-$ überschritten und wurden bereits kürzlich wieder von Edvard Munchs Der Schrei mit einem Erlös von 119,9 Mio. Dollar in den Schatten gestellt.
Freilich gehört die Mehrzahl der Künstler nicht zur Kategorie dieser Topgehandelten. Während sie noch bis ins 19. Jahrhundert mehrheitlich im Auftrag von Kirche, Adel oder Großbürgertum arbeiteten, emanzipierten sie sich danach aus diesen Auftragsverhältnissen. Kunst wurde nun vermehrt durch Vermittler, Galerien und Auktionshäuser an Sammler verkauft. Der Markt begann zu spielen. Der Künstler – und mit ihm die Kunst – gewann an Unabhängigkeit (vgl. Kapitel Keine Kunst ohne Künstler). Oft jedoch ging diese auf Kosten einer gesicherten Existenz. Viele Maler hätten wohl ein sorgenfreieres Leben führen können, wenn ihnen zu Lebzeiten auch nur ein Bruchteil der Anerkennung – insbesondere der finanziellen – erwiesen worden wäre, die sie heute genießen.
Die Anekdote zum Thema: Ende 1877 schien für Claude Monet die [finanzielle] Lage aussichtslos; da fasste sein Malerkollege Édouard Manet einen Plan. Er schrieb an einen Freund: „Ich besuchte gestern Monet und fand ihn niedergebrochen und verzweifelt. Er bat mich, irgendjemanden zu finden, der 10 oder 20 seiner Bilder, jedes zu 100 Franc, übernehmen würde. Dem Käufer stünde die Auswahl frei. Sollen wir die Angelegenheit unter uns ausmachen: sagen wir, jeder bringt 500 Franc auf? Natürlich darf niemand, er am allerwenigsten wissen, dass das Angebot von uns kommt.“7
Zusammenfassung: Kunst ist an das Dasein des Menschen geknüpft. Sie bezeichnete ursprünglich eine Fertigkeit, ein Wissen, eine Meisterschaft in einem Handwerk oder einer anderen Disziplin. Als künstlich galt im Mittelalter etwas vom Menschen willentlich Geschaffenes, im Gegensatz zu dem von Natur aus Vorhandenen. Kunst diente bis ins 19. Jahrhundert einem Zweck, das heißt, sie sollte repräsentieren und darstellen. Sie wurde im Auftrag der Kirche oder des Adels, später auch des reichen Bürgertums, ausgeführt. Lange Zeit definierte sie sich über die Kunstfertigkeit. Erst im 19. Jahrhundert gewann die Idee des Künstlers und dessen Originalität die Oberhand. Je mehr sich die Kunst vom Mäzenatentum (Auftraggeber) löste, umso mehr wurde sie dem freien Markt unterworfen.
Kunst hat uns etwas zu sagen – Hat sie das?
Wir leben bekanntlich in einer Kommunikationsgesellschaft, und das nicht erst seit gestern. Allerdings stehen uns heute viel mehr technische Mittel des Informationsaustausches zur Verfügung als beispielsweise noch unsern Großeltern. Was sich aber bis heute nicht geändert hat, sind die Grundsätze des Informationsflusses, wie sie in sogenannten