Flucht. Rainer Nowak

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Flucht - Rainer Nowak

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auf, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen und nicht bloß den Innen- und Justizministern zu überlassen. Fünf Punkte schlägt er vor: erstens die Bekämpfung der Ursachen der Fluchtbewegungen in Syrien und Libyen, zweitens die Einrichtung von Sicherheitszonen, Aufnahme- und Asylzentren in Drittstaaten möglichst nahe an den Kriegszonen, drittens einen verstärkten Schutz der Außengrenzen, viertens eine verbesserte Polizeikooperation mit den Westbalkanstaaten und fünftens Quoten zur Verteilung der Flüchtlinge in der Union. Ähnliches hat auch schon die Kommission präsentiert, nur umgesetzt hat es niemand.

      Kurz will die Aufmerksamkeit auf die Balkanroute lenken, deshalb reist er nach Mazedonien. Seit Monaten steckt die ehemalige jugoslawische Teilrepublik in einer schweren Staatskrise. Die sozialdemokratische Opposition hat Abhörbänder an die Öffentlichkeit gespielt: Das ganze Volk kann nun hören, wie korrupt und autoritär das System des einstigen Hoffnungsträgers Nikola Gruevski mittlerweile ist. Da wurde geschoben, geschmiert, gedroht, erpresst und manipuliert, was das Zeug hält. Das Land ist in Aufruhr. Die Flüchtlingskrise kommt dem nationalistischen Regierungschef Gruevski nicht ungelegen. Sie kann ihm innen- und außenpolitisch nutzen, wenn er es geschickt anstellt.

      In blütenweißem Hemd und Markenjeans steht Sebastian Kurz an der Grenze in Gevgelija und blickt hinüber nach Griechenland. Er ahnt noch nicht, dass sich hier auch seine Zukunft entscheiden wird. Überall verstreut liegen einzelne Schuhe: neben der Eisenbahnstrecke, unter dem Stacheldraht, im Gestrüpp, auf dem Feldweg. Spuren einer Massenpanik. Vor vier Tagen haben die Mazedonier den Ausnahmezustand ausgerufen und versucht, die Grenze abzuriegeln. Doch das haben sie keine 24 Stunden durchgehalten, nicht einmal mithilfe von Schockbomben und Plastikmunition. Der Andrang der Flüchtlinge ist zu groß gewesen. Jetzt warten vor den Augen von Kurz wieder 200 bis 300 Menschen dicht gedrängt in der prallen Sonne zwischen den Gleisen. Eine Frau schreit laut auf Arabisch, ein griechischer Helfer beruhigt sie. Es wird nicht mehr lange dauern. Polizeivertreter Griechenlands, Mazedoniens und Serbiens haben sich in einem Krisengipfel auf Kontingente verständigt: Statt zwei sollen künftig täglich vier Flüchtlingszüge mit jeweils 500 Passagieren gen Norden fahren. Doch schon zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass auch diese Kapazitäten nicht reichen werden. In der Straße neben dem Bahnhof parken Dutzende Busse und Taxis. Der Weitertransport ist zum Geschäft geworden.

      Vor einem olivgrünen Zelt nahe der Grenze mischt sich Kurz für ein paar Minuten unter bereits registrierte Flüchtlinge, die unter bunten Strandschirmen auf ihre Weiterreise warten. Ein 38-jähriger Syrer erzählt von seiner Überfahrt aus der türkischen Hafenstadt Bodrum auf die kleine griechische Insel Pserimos: 45 in einem Gummiboot, der Motor fällt aus, schreiende Kinder, ein Horror. Er will weiter in die Niederlande, dort bekommt man angeblich rasch Arbeitsgenehmigungen. Ungarn bereitet ihm Sorgen. „Vielleicht brauchen wir dort einen Schlepper“, sagt der Syrer. Unter keinen Umständen will er sich einen ungarischen Stempel in den Pass drücken lassen.

      Kurz hält sich nicht lange auf, er muss durch gewundene Schluchten zurück in die mazedonische Hauptstadt Skopje. Dort streift er sich einen dunklen Slimfit-Anzug über. Bei einer Pressekonferenz im Safarow-Palast sagt er neben dem mazedonischen Außenminister Nikola Poposki, dass er „von Mazedonien, Serbien und vor allem von Griechenland eine ordentliche Grenzsicherung“ erwarte. „Einfaches Durchwinken kann keine Lösung sein.“ Doch was ist die Lösung? Diese Frage stellt Kurz während seiner Reise durch Mazedonien auch Polizeiattaché Kitzberger. Der Beamte aus Golling hat keine Antwort darauf. Er glaubt zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sich der gewaltige Flüchtlingsstrom noch stoppen lässt. Schon gar nicht mit dem Stacheldrahtzaun in Gevgelija. Denn diese Absperrung endet nach nur 200 Metern im Nichts.

       Der Zaunkönig

      Viktor Orbán macht schon das ganze Jahr über mobil gegen die „Völkerwanderung“, die er auf Ungarn und Europa zurollen sieht. Am 11. Jänner 2015 hängt sich der ungarische Ministerpräsident in Paris mit anderen Staats- und Regierungschefs ein, um für ein Bild zu posieren. Es soll den Eindruck vermitteln, dass die Führer der Welt dem Terror trotzen und den gewaltigen Trauermarsch einer Million Franzosen für die 17 Todesopfer der Anschläge auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt anführen. In Wirklichkeit ist das Foto gestellt, wie später eine Luftaufnahme zeigt. Ihre Menschenkette der Solidarität bilden die Spitzenpolitiker aus Sicherheitsgründen beim Place Leon Blum in einer Nebenstraße vor ihrer eigenen Entourage. Danach rauschen sie ab. Orbán setzt vor seinem Abflug noch eine Botschaft ab. Wirtschaftsmigration sei eine schlechte und gefährliche Sache, sie müsse gestoppt werden. Orbán hat sein Thema gefunden, und er schlachtet es innenpolitisch aus. So kann er sich als Beschützer der Ungarn in Szene setzen und der rechtsextremen Jobbik-Partei das Wasser abgraben.

      Im Mai lässt der rechtsnationale Volkstribun per Post Fragebögen an die ungarischen Bürger schicken, um sie an einer „Konsultation über Zuwanderung und den Terrorismus“ teilhaben zu lassen. Die Fragen haben suggestiven Charakter: Ob die seitens Brüssel schlecht gemanagte Einwanderung in Zusammenhang mit dem Erstarken des Terrorismus stehe, erkundigt sich Orbán beim Volk. Und ob er statt der Migranten nicht eher ungarische Familien unterstützen solle. Das UNHCR ist entsetzt: Die ungarische Regierung fördere Fremdenfeindlichkeit und stelle Flüchtlinge als Gefahr dar. Orbán ist von dem Zwischenruf unbeeindruckt. Wenig später lässt er im Land Plakate affichieren. „Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen“, ist darauf zu lesen. Auf Ungarisch. Die Botschaft richtet sich an die eigene Bevölkerung. Orbán organisiert breite Rückendeckung für seine Ablehnung der EU-Verteilungsquoten, die er als verrückt bezeichnet. Die Beziehungen zur EU sinken unter den Gefrierpunkt, nicht zum ersten Mal seit Orbáns Amtsantritt 2010. „Hallo Diktator!“, begrüßt ihn EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei einem Gipfel in Riga halb im Scherz.

      Immer mehr Migranten strömen über die grüne Grenze nach Ungarn. Anfang Juni 2015 sind es bereits über 50 000, mehr als im gesamten Vorjahr und 25 Mal so viele wie 2012. Orbán reicht es, jetzt setzt er endgültig auf einen Alleingang. Er kündigt an, an der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien einen Zaun zu bauen. Eine Sprecherin der EU-Kommission verwendet in ihrer Reaktion eine Metapher, in der sich Europas Debatten in den kommenden Wochen verhaken. „Wir haben gerade erst die Mauern in Europa eingerissen, wir sollten sie nicht wieder aufbauen.“ Ihr Nebensatz geht unter: Die EU hat keine rechtliche Handhabe. Ungarn liegt an der Außengrenze der EU. Und dort erlaubt der Schengen-Kodex den Bau von Grenzzäunen. Die Ungarn sind nicht die ersten, die Absperrungen hochziehen. Spanien hat 2005 die Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko zu Festungen ausgebaut: mit sechs Meter hohen Stacheldrahtzäunen. Auch Griechenland und Bulgarien haben Wälle an ihren Landgrenzen errichtet. Darüber hat sich kaum jemand aufgeregt. Doch Ungarn steht am Pranger. Orbán ist nun einmal der böse Bube, und er selbst schürt das Image nach Kräften, es lädt seine Bedeutung auf. Die Zaun-Entscheidung ist zunächst auch intern nicht unumstritten, wie sich Regierungssprecher Zoltán Kovács erinnert. Einzelne Beamte erheben technische Einwände, andere bezweifeln den Nutzen. Doch letztlich orientieren sich die ungarischen Behörden an internationalen Beispielen: an Spanien, Israel und den USA. Bis Ende November soll der vier Meter hohe Zaun fertig sein, heißt es anfangs. Das geht Orbán zu langsam. Gegen Ende Juli beschleunigt er die Bauarbeiten: Bis 31. August soll zumindest ein Vorzaun stehen: 150 Zentimeter hoch.

      Setzt nun eine Torschlusspanik ein? Ab Mitte Juli wird die Flüchtlingskrise auch im Herzen Budapests sichtbar. Noch versuchen die ungarischen Behörden, die Personaldaten der Flüchtlinge aufzunehmen. Sie gehen dabei bisweilen nicht zimperlich vor. Doch die Aufnahmelager sind offen. Nach ihren Asylanträgen ziehen die Menschen weiter. Sie wollen nicht in Ungarn bleiben. Das ist nicht das Land ihrer Träume. Ab August lassen sich die Flüchtlinge in Ungarn kaum noch registrieren. Nur ja kein ungarischer Stempel. Denn dann könnte man ja zurückgeschoben werden.

       Das kaputte Dublin-System

      Das Dublin-Spiel ist längst im Gang. Das Übereinkommen, 1990 in der irischen Hauptstadt unterschrieben und sieben Jahre später in Kraft getreten, ist auch in seiner dritten Version so ganz nach dem Geschmack von

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