Flucht. Rainer Nowak
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Am 3. September endet ein solcher Versuch in einem Riesenskandal. Unter dem Vorwand, dass die Reise nach München gehe, locken die ungarischen Behörden Flüchtlinge am Keleti-Bahnhof in einen Zug, dessen Sonderlokomotive noch dazu mit Grafiken verziert ist, die an das paneuropäische Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze vor dem Fall der Mauer 1989 erinnern. Die Menschen kaufen Fahrkarten, stürmen die Waggons, reichen Kinder durch die Fenster. Doch der Zug hält 35 Kilometer außerhalb von Budapest im Flüchtlingslager Bicske, dort wirft sich ein verzweifelter syrischer Mann mit seiner Frau und einem Baby auf die Gleise. Das Foto geht um die Welt, meist versehen mit einem falschen Bildtext, in dem ungarischen Polizisten unterstellt wird, Gewalt anzuwenden.
Orbán ist in diesem Tag in Brüssel. Er versucht Zwangsquoten und Hotspots abzuwehren. Mittlerweile ist publik geworden, dass Juncker und Merkel zusätzlich 120 000 Flüchtlinge verteilen wollen. Der Druck auf Orbán ist groß. Artig verspricht er, Migranten zu registrieren, wenn Merkel das wünsche. Obwohl das gar nicht mehr möglich ist. Seit Tagen verweigern Flüchtlinge jegliche Kooperation mit den Ungarn. Dann provoziert Orbán wieder. „Das ist kein europäisches Problem, das ist ein deutsches Problem“, sagt er in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. „Niemand will in Ungarn bleiben und auch nicht nach Slowenien, Polen oder Estland. Alle wollen nach Deutschland.“ Die Regierung in Berlin habe mit unklaren Aussagen Menschen aus Syrien an den „gedeckten Tisch eingeladen“, ergänzt sein Stabschef János Lázár.
Die Ungarn treffen einen wunden Punkt: den BAMF-Tweet, den Merkel & Co. nun wieder verzweifelt ungeschehen machen wollen. Dublin gelte nach wie vor, wiederholen sie bei jeder Gelegenheit gebetsmühlenartig – und vergeblich. Normalerweise ist die deutsche Kanzlerin kaum zu provozieren, doch Orbáns Umschreibung des Flüchtlingsproblems lässt sie nicht unkommentiert: „Deutschland tut das, was moralisch und rechtlich geboten ist. Nicht mehr und nicht weniger.“ In diesen Stunden geht das Foto von Aylan Kurdi über die Nachrichtenkanäle: ein dreijähriger syrisch-kurdischer Bub im roten Kurzarmleibchen, leblos an einen Strand nahe Bodrum gespült.
Am Vorabend einer historischen Zäsur beherrschen Betroffenheit, gegenseitige Schuldzuweisungen, Gesten moralischer Überlegenheit, Zynismus und Widersprüche den politischen Raum. Merkel und Faymann können es nicht fassen, wie schlecht Orbán Flüchtlinge behandelt. Orbán hingegen weiß nicht so recht, was die beiden eigentlich von ihm wollen. Soll er die Flüchtlinge aufhalten oder weiterziehen lassen? Soll er Zäune errichten, sich an den Schengen-Kodex und die Dublin-Regeln halten? Eines ist für ihn klar: Behalten will er die Flüchtlinge nicht. Er glaubt nicht an eine europäische Lösung. Doch wie sich die Lage vor dem Keleti-Bahnhof schnell entschärfen lässt, daran denkt offenbar niemand. Tausende erschöpfte Menschen schwanken zwischen Bangen und Hoffen. „Alemania“, „Germany“ rufen sie immer wieder in Sprechchören. Die Stimmung ist aufgeheizt, die Bicske-Finte empört die Flüchtlinge. Mittlerweile haben sie einen wichtigen Verbündeten: die Medien.
Der 4. September beginnt für Viktor Orbán mit einem außerordentlichen Treffen der Visegrád-Gruppe in Prag. Die Premierminister Tschechiens, der Slowakei und Polens stärken ihm den Rücken in der Flüchtlingskrise – und versprechen den Westbalkanstaaten Unterstützung beim Grenzschutz. In Wien empfangen Werner Faymann und sein Kanzleramtsminister Josef Ostermayer den ungarischen Botschafter János Perényi. Der österreichische Kanzler regt die Einrichtung von Hotspots an der serbisch-ungarischen Grenze an. Doch das ist undenkbar für Ungarn. Über eine Verteilung ließe Ungarn grundsätzlich mit sich reden, aber erst, wenn die EU die Kontrolle über ihre Außengrenze zurückgewonnen habe. Faymann fragt, wieso so wenige Leute in Ungarn Asyl bekommen. Das sei einfach, antwortet der Botschafter: „Die Migranten ziehen weiter, nachdem sie den Antrag gestellt haben, und sie festzuhalten, ist nicht erlaubt.“ Es ist ein gutes Gespräch, auch wenn die Meinungen weit auseinandergehen. Man beschließt, in Kontakt zu bleiben.
Perényi, der als Kind selbst nach Schweden geflüchtet war, geht davon aus, dass es sich um eine vertrauliche Unterredung handelt. Doch Faymanns Büro gibt danach eine Presseaussendung in ermahnendem Ton heraus: „Ungarn hat eine Registrierungspflicht. Es soll Flüchtlinge menschlich behandeln und es soll sich dafür einsetzen, dass es eine verpflichtende Quote gibt.“ Über die Flüchtlinge vor dem Keleti-Bahnhof sprechen der Botschafter und der Kanzler nicht. Doch bald wird die ganze Welt darüber reden. Um ungefähr 13 Uhr brechen Hunderte Flüchtlinge vom Bahnhof auf, mit Ikea-Säcken und Tragetaschen. Eine bunte Truppe. Sie sind den weiten Weg von Syrien, dem Irak, Afghanistan, Pakistan oder dem Iran bis hierher gekommen. Sie wollen nicht länger in Budapest, umringt von Polizisten, auf einen Zug nach Deutschland warten. Sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Sie setzen sich in Bewegung – und schreiben damit Geschichte.
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