Flucht. Rainer Nowak

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Flucht - Rainer Nowak

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jenes Land zuständig, das Schutzsuchende als erstes betreten. Staaten an der EU-Außengrenze wie Italien und Griechenland sind davon besonders betroffen.

      Deren jahrelange Bitten um Solidarität der europäischen Partnerländer haben nichts gebracht. Sie haben sich daher längst auf eine andere Strategie verlegt: wegschauen und durchwinken. Seit vier Jahren ist Griechenland überhaupt aus dem Spiel: Am 21. Dezember 2011 hält der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg in den Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 fest, dass ein Asylwerber nicht in einen Mitgliedstaat überstellt werden kann, in dem er aufgrund systemischer Mängel im Verfahren Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden. Ein ähnliches Urteil fällt zu Beginn desselben Jahres der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die griechischen Behörden haben das System ausgehebelt, und die europäischen Richter haben ihren Stempel daraufgegeben: Man muss Asylwerber nur schlecht, schleißig und schäbig genug behandeln, dann ist man nicht mehr für sie zuständig. Dublin ist längst tot, doch das wird erst in diesem Flüchtlingssommer so richtig offenkundig. Für Griechenland, das europäische Einfallstor auf der Balkanroute, gilt eines der wichtigsten Ordnungsprinzipien im europäischen Asylgefüge nicht mehr: Es kann getrost auf Durchzug schalten, von Amts wegen darf kein EU-Staat Asylwerber nach Griechenland zurückschicken.

      Ende Juni, knapp vor dem EU-Gipfel, setzt auf einmal Ungarn das Dublin-III-Abkommen einseitig aus. Regierungssprecher Kovács zündet die Bombe in Wien im Gespräch mit Journalisten nach einer Portion Hummerkrautfleisch im Restaurant Vestibül im Burgtheater. Das Boot sei voll, Ungarn werde keine Flüchtlinge aufnehmen und schon gar keine zurücknehmen, sagt Orbáns smarter Staatssekretär für Public Diplomacy in perfektem britischem Englisch. Zwölf EU-Mitgliedstaaten sind auf Beamtenebene informiert. Es ist ein Hilfeschrei, ein taktischer Kniff, um deutlich auf den enormen Flüchtlingsandrang in Ungarn hinzuweisen. Die Aufregung ist groß. Alle pochen auf die Dublin-Schimäre. Damit das System nicht vollkommen zusammenbricht, muss zumindest der Schein gewahrt bleiben. Ungarn rudert zurück – und bekennt sich zu europäischem Recht.

      Doch die Lage entgleitet. Im August sind bereits mehr als 100 000 Menschen auf der Balkanroute unterwegs. Es werden mehr und mehr. Der Budapester Bahnhof Keleti hat sich zum Drehkreuz für Flüchtlinge und Schlepper entwickelt. Hunderte campieren auf dem Vorplatz oder im Untergeschoß und täglich gesellen sich neue Ankömmlinge hinzu, ihr Hab und Gut in Rucksäcken. Viele versuchen ihr Glück auf eigene Faust, kaufen einfach Tickets für Züge nach Österreich und Deutschland. Andere heuern Fahrer an. Noch ist für sie die Grenze nach Österreich nicht offen. Doch die Behörden können oder wollen nicht lückenlos kontrollieren, auch nicht in den Zügen. Es gibt zwar trinationale Streifen, die ungarische, deutsche und österreichische Polizisten gemeinsam durchführen. Doch offenbar zu wenige. Langsam rauen die Nerven auf. Deutsche Polizeibeamte beklagen sich öffentlich, dass ihre österreichischen Kollegen wegschauen. Die Innenminister fangen die Unstimmigkeit wieder mit Gelöbnissen zur Zusammenarbeit ein.

      Merkel und das Mädchen

      „DAS KÖNNEN WIR

       NICHT SCHAFFEN!“

      In Deutschland sind die Flüchtlingsheime bereits zum Bersten voll. Angela Merkel hat noch kein einziges besucht. Sie hält sich raus. Die Medien geißeln sie dafür. Seit dem 15. Juli 2015 hat die deutsche Langzeitkanzlerin ein veritables Imageproblem. An diesem Tag führt sie ein Bürgerdialog namens „Gut leben in Deutschland“ in eine Schule nach Rostock. Ein Routinetermin: die Kanzlerin im beigen Blazer inmitten einer Runde von artigen Jugendlichen. Doch dann schildert Reem Sawihl, ein eloquentes 14-jähriges palästinensisches Flüchtlingsmädchen aus dem Libanon, dass sie und ihre Familie bald abgeschoben werden. Ihr Traum von einem Studium in Deutschland droht zu platzen. Nicht zu wissen, wie die Zukunft aussehe, sei bedrückend. „Es ist wirklich sehr unangenehm, zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man es selber halt nicht mitgenießen kann.“ Merkel antwortet nett, aber klar. Das Verfahren dauere zu lange. Der Libanon sei kein Kriegsgebiet. „Wenn wir jetzt sagen: ‚Ihr könnt alle kommen und ihr könnt alle aus Afrika kommen, das können wir auch nicht schaffen.‘“ Reem bricht in Tränen aus. Das rührt die Kanzlerin. Sie geht auf das Mädchen zu und streichelt es. Und weil die Kanzlerin aus der Rolle fällt und niemand Trost durch Handauflegung spenden kann, wirkt sie, zusätzlich genervt von Bemerkungen des Moderators, irgendwie linkisch und unbeholfen. Das Video wird viral. Hämische Kommentare folgen. Merkel wird als gefühlskalt dargestellt. „Die Eiskönigin“ hatte der „Stern“ später getitelt und damit ihre Haltung in der Griechenlandkrise gemeint. Solche Bilder können sich schnell verfestigen. Das macht Merkel und ihre Berater nachdenklich.

      Die Stimmung in Deutschland ist volatil in diesem Flüchtlingssommer 2015. Bundespräsident Joachim Gauck spricht von einem hellen und einem dunklen Deutschland, einem helfenden und einem geifernden. In Heidenau, einem kleinen Städtchen in Sachsen, protestiert rechtsextremer Pöbel tagelang mit Steinen, Flaschen und ausländerfeindlichen Parolen gegen 250 Asylwerber, die provisorisch in einem leer stehenden Baumarkt untergebracht werden sollen. Die Republik ist geschockt. Deutschland zeigt sein hässliches Gesicht. Merkel bietet den Radikalen die Stirn. Sie fährt nach Heidenau – und wird dort wüst beschimpft. Keine zwei Wochen werden sie und Deutschland die Gelegenheit haben, sich von einer anderen Seite zu zeigen, einer strahlenden, moralisch einwandfreien und menschenfreundlichen Seite.

      Spätestens im August wendet Merkel ihre volle Aufmerksamkeit der Flüchtlingskrise zu. Diese Frage werde Europa noch sehr viel mehr beschäftigen als die griechische Schuldenkrise und die Stabilität des Euro, sagt die deutsche Kanzlerin Mitte des Monats öffentlich. Sie hat sich eine Strategie zurechtgelegt. Merkel will eine europäische Lösung. Unbedingt. Alternativlos. Mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vereinbart sie, die Hotspot-Idee auch auf Griechenland auszurollen und die Zahl der zu verteilenden Flüchtlinge auf 160 000 zu erhöhen. Das ist kühn. Denn bisher hat nicht einmal die im Mai präsentierte Miniversion des Modells auch nur annähernd funktioniert. Doch Merkel sieht keine andere Lösung. Am 9. September soll Juncker den Plan vorstellen. Und bis dahin will sie auch den renitenten Viktor Orbán bearbeiten. Immerhin 54 000 Flüchtlinge, mehr als ein Drittel der Gesamtzahl, sollen den Ungarn im Rahmen des Verteilungsmechanismus abgenommen werden. Das ist doch ein Angebot. Aber so viel Zeit bleibt nicht mehr. Denn die Ereignisse überschlagen sich. Und eine Kommunikationspanne erhöht das Tempo.

       Ein Tweet setzt Massen in Bewegung

      Am 25. August setzt das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine folgenreiche Kurznachricht ab: Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht verfolgt. Eine fatale kommunikative Fehlleistung. Der Vermerk ist eigentlich für interne Zwecke gedacht – eine Maßnahme zur Beschleunigung der Asylverfahren, um die deutschen Bundesländer zu entlasten. Aber irgendwie hat die Hilfsorganisation Pro Asyl über ein Leck Wind davon bekommen. Und nun bestätigt die unterbesetzte Pressestelle des BAMF auf Anfrage auch noch per Twitter. Dabei ist die Information keineswegs für die Öffentlichkeit bestimmt, schon gar nicht in der verkürzten Form von 127 Zeichen. Im deutschen Bundesinnenministerium ist man entsetzt. „Wir wurden überrascht und sind absolut nicht begeistert gewesen“, erinnert sich die für die Migration zuständige Staatssekretärin Emily Haber.

      In Wien schlägt Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner die Hände über dem Kopf zusammen, als sie davon erfährt. „Ich halte das für einen schweren Fehler, damit werden die Schleusen geöffnet und falsche Hoffnungen geweckt“, sagt sie zu ihrem befreundeten deutschen Amtskollegen Thomas de Maizière. Doch der Tweet lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Er entwickelt ein Eigenleben, geht wie ein Lauffeuer um die Welt. Merkel erhält danach von Syrern Liebesbotschaften auf sozialen Medien. Die Flüchtlinge sind schnell informiert. Sie sind vernetzt, die meisten haben Handys. Egal, wo sie hinkommen, ihre erste Frage ist immer, wo sie ihre Geräte aufladen können. Jetzt sind auf einmal alle Syrer. Die Kurznachricht

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