Flucht. Rainer Nowak
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Flucht - Rainer Nowak страница 7
Bilder des Grauens
Am 27. August 2015 kommt Merkel nach Wien. In der Früh überreicht ihr Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann das Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich. Doch das ist nicht der Anlass ihres Besuchs. Sie nimmt am Westbalkan-Gipfel teil. Die Regierungschefs, Außenminister und Wirtschaftsminister Mazedoniens, Albaniens, Kosovos, Serbiens, Kroatiens, Montenegros und Sloweniens sind eingeladen. Der Rahmen in der Wiener Hofburg ist gediegen: zur Eröffnung Kammermusik von Felix Mendelssohn Bartholdy. Der Ablauf ist bei solchen Veranstaltungen bis ins letzte Detail geplant und getaktet, die Abschlusserklärung längst ausbuchstabiert. Diesmal soll es nicht nur um EU-Beitrittsperspektiven, um Infrastrukturprojekte und Jugendaustausch gehen. Auf der Agenda steht auch das Thema Nummer eins: die Migration. Gastgeber Werner Faymann hat drei Botschaften in seiner Eröffnungsrede: Asyl sei ein Menschenrecht, eine verpflichtende Verteilung von Flüchtlingen unerlässlich und der Kampf gegen Schlepper vorrangig. Hinter den Kulissen will er gemeinsam mit Merkel Mazedonien drängen, seine Grenzen besser zu kontrollieren. Im Schlusscommuniqué wird dann lediglich von verstärkter Zusammenarbeit bei Grenzmanagement und Asyl die Rede sein.
Doch zu diesem Zeitpunkt hat längst ein anderes Ereignis den Gipfel überschattet. Kurz nach 13 Uhr macht Faymann die deutsche Regierungschefin auf eine Eilmeldung aus seinem Kanzleramt aufmerksam. Er zeigt ihr die Nachricht auf dem Handy: In einem Lkw sind mehrere Leichen gefunden worden. Am Ende zählen die Ermittler 71 Tote in dem Kühllaster, den die Autobahnmeisterei in einer Pannenbucht der Ostautobahn bei Parndorf nach 24 Stunden Stehzeit gefunden hat. 59 Männer, acht Frauen, vier Kinder aus dem Irak, Afghanistan, Syrien und dem Iran. Aus dem Fahrzeug tropft Leichenflüssigkeit. Die Flüchtlinge sind elendiglich erstickt in dem Transporter für Gefrierhühnerfleisch; die Schlepper haben sie auf 14,26 Quadratmetern zusammengepfercht und die Türe von außen verschlossen. Nach Luft ringend, haben die Menschen im Todeskampf wie wild an die Außenwände geschlagen. Der Fahrer hat das Klopfen vernommen, aber nicht aufgemacht. Das dokumentieren Tonbandprotokolle, die die ungarische Staatsanwaltschaft zum Prozessbeginn in Kecskemét fast 22 Monate später vorlegt. Die ungarische Polizei hat die Schlepperbande abgehört, aber den Mitschnitt zu spät ausgewertet.
Faymann und Merkel sind tief erschüttert. Dieser Moment, das Parndorfer Drama, verbindet sie. Das ist kein stilles Massensterben mehr, weit weg im Mittelmeer. Die Schrecken der Flüchtlingskrise sind auf einmal ganz nah und sichtbar. Die Tragödie lässt sich nicht mehr verdrängen. Der weiße Volvo-Kühllaster mit der braunen Aufschrift einer slowakischen Geflügelfirma – das Y im Logo zu einem Huhn stilisiert – wird eines der ikonischen Fotos dieses Sommers. Bundespräsident Heinz Fischer hält beim Mittagessen mit den Regierungschefs und Ministern des Westbalkan-Gipfels eine Schweigeminute ab. Alle sind sich einig: So kann es nicht weitergehen.
Die Korridorlösung
Der Vorplatz unter der Neorenaissancefassade des Keleti-Bahnhofs in Budapest quillt inzwischen über. Die steinernen Statuen von James Watt und George Stephenson, den Erfindern der Dampfmaschine und der Dampflok, blicken mittlerweile auf Tausende Flüchtlinge herab, die alle nach Deutschland wollen. Und das rufen sie auch immer wieder, unter rhythmischem Geklatsche. Die Polizei riegelt den Bahnhof ab. Journalisten aus aller Welt haben sich eingefunden. Sie berichten von beschämenden Zuständen. Vom ungarischen Staat haben die Flüchtlinge nichts zu erwarten, kein Wasser und auch kein Essen. Sie sind auf private Hilfe angewiesen. Die ungarische Regierung steht wieder einmal am Pranger. Der mediale Druck ist enorm. Am 31. August zieht sich die Polizei auf einmal zurück. Hunderte stürmen die Züge. An diesem Montag werden am Ende 3650 Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof ankommen. Nur sechs stellen einen Asylantrag. Der Rest reist in Zügen weiter Richtung Deutschland.
Merkel nimmt Kontakt zu Orbán auf und versucht, den Dublin-Tweet des Bundesamts für Migration vergessen zu machen. Sie spricht öffentlich von einem „Missverständnis“, das sich sicher schnell ausräumen lasse: Die Dublin-Verordnung gelte weiterhin in ganz Europa. Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner schlägt in die gleiche Kerbe. Dublin ersatzlos zu streichen, komme nicht infrage. Explizit fordert sie eine neuerliche Klarstellung von Deutschland. Berlin reagiert gereizt auf diese Empfehlung. Im ORF-Sommergespräch mit Hans Bürger im Ringturm über den Dächern Wiens verpasst Werner Faymann dem ungarischen Premier einen heftigen Seitenhieb. „Dass die in Budapest einfach einsteigen und man schaut, dass die zum Nachbarn fahren – das ist doch keine Politik.“ Ungarns Ministerpräsident müsse für Kontrollen und für die Einhaltung der Gesetze sorgen. „Wo ist denn da der starke Regierungschef, der immer auffällt durch besonders undemokratische Maßnahmen?“
Auch Faymann pocht auf die Dublin-Regeln, auf Fingerabdrücke und die Registrierung von Flüchtlingen. Doch agiert Österreich anders? All das sagt der Kanzler eines Landes, das am 31. August die aus Ungarn kommenden Flüchtlinge selbst einfach nur weitergewinkt hat zum deutschen Nachbarn. Dem an sich besonnenen CDU-Vorsitzenden im Europaausschuss des Bundestags, Gunther Krichbaum, kommt die Galle hoch. Er fordert die EU-Kommission auf, Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Österreich zu prüfen. „Es ist skandalös, dass Flüchtlinge nun ungeprüft und ohne Ausweiskontrolle nach Deutschland kommen“, sagt er. Doch auch in den kommenden Monaten wird Österreich so verfahren und keinen einzigen durchreisenden Migranten registrieren. Ungarn ist gar nicht erfreut über Faymanns Belehrung, die auch noch eine Tirade gegen Zäune, Mauern und Wachtürme in Europa beinhaltet. Es zitiert den Österreichischen Botschafter in Budapest, Ralph Scheide, ins Außenministerium. Während die Flüchtlingskrise ihrem Höhepunkt zutreibt, liegen die Nachbarbeziehungen am Boden. Das wird sich noch rächen. Orbán lässt den Keleti-Bahnhof jetzt wieder abriegeln. Die Deutschen und Österreicher wollen es ja nicht anders, sie haben sich ja beschwert über die Flüchtlingszüge. Der provisorische Zaun an der Grenze zu Serbien hält kaum jemanden auf. Immer mehr strömen nach Budapest. Die Stimmung ist aufgeheizt. Der Budapester Ostbahnhof wird zur Bühne, in der sich die Geschichte unter den Kameras internationaler Fernsehstationen wie unter einem Brennglas verdichtet.
Gerry Foitik, den Bundesrettungskommandanten des Roten Kreuzes, erinnert die Szenerie an 1989. Damals hatte seine Organisation geholfen, DDR-Flüchtlinge aus der deutschen Botschaft in einer Nacht- und Nebelaktion nach Westdeutschland zu führen. Ähnliches schlägt er nun im österreichischen Innenministerium vor. Warum holen wir die Flüchtlinge nicht einfach ab? Ein Beamter winkt sofort ab. „Dann kommen Sie wegen Schlepperei ins Gefängnis.“ In Wien haben Facebook-Aktivisten, angefeuert von Robert Misik, dem späteren Biografen von Faymanns Nachfolger Christian Kern, eine ähnliche Idee. „Konvoi Budapest Wien – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ nennen sie ihre Initiative. Sie wollen Schutzsuchende mit Privatautos aus Ungarn abholen. Am Sonntag, dem 6. September, um 11 Uhr soll auf dem Parkplatz des Praterstadions die erste Wagenkolonne starten. Ein paar fahren schon früher los. Sie werden am Donnerstag verhaftet. Wegen Schlepperei.
Auf Regierungsebene ist niemand daran interessiert, einen Korridor zu errichten. Das ist keine Option, weder für Österreich noch für Deutschland. Die Angst vor einer Sogwirkung, vor einem endgültigen Zusammenbruch des Dublin-Systems, ist zu groß. Und Orbán will unter allen Umständen verhindern, dass sich die Krise im Herzen der ungarischen Hauptstadt institutionalisiert. Ein Korridor zöge noch mehr Flüchtlinge an.