Neues vom Tatort Tegel. Ingrid Noll
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Rechts beginnt der Wald. Da ist nur so eine Art Trampelpfad, den wahrscheinlich Kinder beim Spielen ausgetreten haben. Ich folgte ihm, schlug mich dann rechts in die Büsche, stieg den kleinen Abhang hoch und war bald auf der Rückseite vom Krähenwinkel 32. Ich hatte die Häuser genau abgezählt. Die Ecke ist die 38. Bei ihr war alles dunkel. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende, ohne den Blick von ihren Fenstern zu nehmen, ein normal großes, und zum Balkon hin ein breites mit der Balkontür daneben. Alles ohne Gardinen.
Ich wartete. Geduld ist eine meiner Stärken. Ich habe Zeit. Irgendwann ging das Licht an. Sie trug jetzt keinen Mantel mehr, nur Rock und Pullover. Ich sah, dass sie schlank war, nicht zu sehr, aber auch nicht pummelig. Viele Möbel konnte ich nicht erkennen, obwohl ich gute Sicht hatte. Das lag am Blickwinkel leicht von schräg unten. Der Balkon stört nicht groß, weil er nur ein dünnes Gitter hat. Trotzdem schade, dass der Hügel nicht höher ist, auf dem ich stehe. Wahrscheinlich hat man ihn nur als Lärmschutz angelegt wegen der Autobahn, die auf der anderen Seite nicht weit entfernt verläuft. Hier sind nur Büsche, nichts zum Raufklettern. Also kommt man nicht höher.
Ich erkannte ein Regal mit vielen Büchern und einem blauen Plüschtier, eines von diesen billigen Viechern, die man auf dem Rummel an der Losbude bekommt, wenn man Pech hat, oder wenn man mit drei Würfen alle Büchsen vom Brett schmeißt. Bestimmt hat sie das mal geschenkt bekommen und traut sich nicht, es wegzuschmeißen, falls der mal kommt, der ihr das geschenkt hat und fragt, wo sie es denn hat.
Sie legte ihre Handtasche ab, vermutlich auf einen Sessel oder so was. Sie stellte den CD-Player an, der im Regal zwischen den Büchern steht. Aber hören konnte ich natürlich nichts. Ich drehte mir eine neue Zigarette, aber ich wurde damit nicht fertig, weil etwas geschah, worauf man immer hofft, was aber ganz selten eintritt.
Sie zog ihren Pullover aus. Sie hatte sehr helle Haut. Ich wünschte, sie hätte länger so gestanden, den Pulli in der einen Hand und mit der anderen sich durch das Haar fahrend. Das Haar wurde dadurch nicht ordentlicher, eher wilder. Das sah gut aus. Ich dachte einen Moment lang, das macht sie für mich, aber das ist natürlich Quatsch. Sie wusste ja gar nichts von mir. Sie schien etwas zu überlegen und sich nicht schlüssig zu werden.
Dann legte sie den Pullover ab, wahrscheinlich auf dem Sessel, wo schon ihre Handtasche war, und zog ihren weißen BH aus. Ich musste ganz schön schlucken, dabei machte sie das ganz sachlich, hinten aufhaken, den einen Arm durch den Träger und, schwupps, den anderen. Fertig. Ihre Brüste sind klein. Sie würden leicht in meine hohle Hand passen. Das ist wie füreinander gemacht, so eine Frauenbrust und eine leicht gewölbte Männerhand. Das hat die Natur so eingerichtet, dass alles zusammenpasst. Und fest sind ihre Brüste bestimmt auch, jedenfalls bewegten sie sich kaum, als sie sich vorbeugte, um den BH wegzulegen. Ich kann das beurteilen, ich gehe im Sommer viel ins Freibad. Ich bin, kann man sagen, ein Kenner.
Sie nahm aus ihrer Tasche einen dunkelroten BH, an dem noch das Preisschild baumelte. Da war ich echt verblüfft. So eine! Ich bin wirklich ein guter Beobachter, aber ich hatte im Kaufhaus nichts bemerkt. Ob sie da Routine hat? Bestimmt, dachte ich. Eine, die nicht oft klaut, ist so nervös, dass sie gleich auffällt. Da muss man ganz cool bleiben, ganz gleichgültig wirken, so als habe man überhaupt kein Interesse an irgendwas. Ich meine, so mache ich das ja auch, wenn ich mal Leuten hinterhergehe. Das fällt keinem Schwein auf.
Sie zog den BH an, aber nicht wie in den Videos. Sie machte den Verschluss vorne vor dem Bauch zu, drehte das Teil nach hinten und schlüpfte mit den Armen durch die Träger. Dann erst zog sie ihn richtig hoch und verstaute ihre kleinen Brüste in den Körbchen. So machen das die Frauen nämlich in Wirklichkeit! Einfach so, ohne großes Brimborium. Da lügen die Filme. Dabei ist das so doch viel aufregender, eben weil sie es so selbstverständlich macht, als wäre nix dabei. Für sie ist ja auch nix dabei, und sie kann ja nicht ahnen, wie aufregend das für einen Mann ist, der zuguckt. Da ist sie ganz unschuldig, da kann sie nix für. Das kann ihr keiner vorwerfen.
Sie drehte sich um und guckte über die Schulter, wahrscheinlich zu einem Spiegel, den ich nicht sehen konnte. Richtige Tanzschritte machte sie, ganz kleine, zierliche, auf der Stelle, vielleicht zu der Musik aus dem Radio, die ich nicht hören konnte. Nach einer Weile hörte sie auf zu tanzen. Sie nahm von irgendwo eine kleine Schere und schnitt das Preisschild ab, ohne den BH dafür auszuziehen. Aber ich war nicht enttäuscht. Ich war so fasziniert, dass ich kaum bemerkte, dass mir Papier und Tabakkrümel einfach aus der Hand gefallen waren. Scheiß auf die Zigarette!
Sie zog ihren dunklen Rock aus. Der Reißverschluss war links an der Seite, nicht hinten. Sie ging in eine Ecke und kam mit einer hellen Hose wieder an dieselbe Stelle, wo sie vorher gestanden und getanzt hatte. Wahrscheinlich ist das der beste Fleck im Zimmer, wo sie sich gut im Spiegel sehen kann. Sie trug einen weißen Tanga, so eine Art Nichts mit Spitze, ein winziges Dreieck vorne, um die Taille und hinten nur ein Faden wie Zahnseide. Im Freibad sind diese Dinger in diesem Jahr aus der Mode. Da waren die letzten Jahre besser.
Ihr Po beim Bücken, als sie in die Hose stieg! O Mann! Ich meine, im Freibad, die Mädchen wissen ja, dass alle zugucken, wenn sie sich zum Handtuch bücken, wenn sie aus dem Wasser oder von der Dusche kommen. Die wissen ganz genau, wie sie sich bewegen. Die wollen die Kerle anwichsen, ist doch klar. Aber wehe, man kommt ihnen dann wirklich zu nahe! Als ob man ein Triebtäter wäre oder so was. Einen anmachen und dann Ohrfeige, das macht den Weibern Spaß. Aber sie? Sie hatte doch keine Ahnung, dass ihr jemand zuschaut. Und trotzdem bewegte sie sich genau wie die Mädchen im Freibad. Sie ist einfach sexy, von Natur.
Sie probierte noch eine dunkle Hose, zog sie aber ganz schnell wieder aus und stieg wieder in die helle. Alles so, dass ich es ganz genau sehen konnte, nur von ein bisschen weit weg eben. Klar, das sind immerhin gut zwölf, vielleicht fünfzehn Meter von hier bis ins Zimmer. Jedesmal, wenn sie den Reißverschluss hochzog, stieg sie auf die Zehen und zog den Bauch ein. Dabei ist sie doch schlank. Ob sie Sport treibt? Ich glaube, ihr Bauch muss ganz weich sein. Nachgiebig und doch auch fest und glatt wie Seide.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Sie streifte eine hellblaue Bluse über, knöpfte sie flink zu, zog dunkelgelbe Gardinen vor das breite Fenster und die Balkontür, und gleich darauf ging das Licht aus. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, und der Regen setzte ganz leicht wieder ein. Alles blieb dunkel. Es war still im Wald. Das war schön, so allein im dunklen Wald. Der Niesel machte kaum Geräusch auf den Blättern. Ich war wie benommen, aber auch irgendwie glücklich. Ich nahm den letzten Bus in die Stadt.
Das war im vorigen Herbst, am 21. September, um genau zu sein. Das hätte ich mir nicht aufzuschreiben brauchen, das hätte ich mir auch so gemerkt. Aber ich habe alles aufgeschrieben. Ein Tagebuch, ihr Tagebuch könnte man sagen, auch wenn sie nichts davon weiß. Ich sag mal: unser Tagebuch. Aber davon wird sie nie erfahren. Ich meine, ich zerreiße alles, was ich da reinschreibe, nach ein paar Tagen, damit es niemand findet. Aber dann habe ich schon alles im Kopf und kann es von Anfang bis Ende abrufen. Das ist aufregend, jedesmal neu, obwohl ich alles in- und auswendig kenne. Das ist wie bei den Videos oder DVDs, die ich immer wieder gucken kann, obwohl ich genau weiß, was im nächsten Moment passiert. Da kann man sich dann schon vorher drauf freuen. Früher habe ich manchmal schnell vorgespult, um an die richtigen Stellen zu kommen, so wie man sich in Büchern die richtigen Stellen sucht. Aber dann kriegt man den Film oder die Geschichte gar nicht als Ganzes richtig mit, eben nur die Stellen. Vielleicht weil der Film oder das Buch als Ganzes uninteressant sind, nur eben die bestimmten Stellen nicht. Das Tagebuch wiederhole ich mir immer ganz genau, Wort für Wort, aber manchmal ändere ich auch etwas, das mir nicht mehr so gefällt. Dann wird es noch aufregender.
Ich habe mir nach dem nächsten Ersten ein Fernglas gekauft, so ein kleines, lichtstarkes für die Jackentasche.