Neues vom Tatort Tegel. Ingrid Noll
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Neues vom Tatort Tegel - Ingrid Noll страница 7
Und wenn sie wach wird? Und wenn sie schreit? Weil sie sich erschreckt, obwohl ich sie doch liebe und nicht erschrecken will? O Scheiße! Warum ist das Leben so kompliziert? Ich will nichts Böses, aber die Leute würden bestimmt sonst was denken. Ich meine, was gehen mich die Leute an? Trotzdem, ich muss ganz vorsichtig sein, ihretwegen, aber auch meinetwegen.
O Kerstin! So lange habe ich schon gewartet. Ich kann nicht mehr warten. Sonst geht etwas kaputt in mir, das weiß ich. Also werde ich nicht mehr warten. Nur noch, bis du fertig bist mit Lesen. Und dann noch eine halbe Stunde.
MECHTILD BORRMANN
Brief an einen Sohn
Bielefeld am 22. August 2006
Christian,
schon die Anrede fällt mir schwer. Zwei Briefbögen habe ich bereits in den Papierkorb geworfen. Auf dem ersten hatte ich ganz selbstverständlich »Lieber Christian« geschrieben. Dann erschien mir dieses »Lieber« unangemessen. Auf dem zweiten Bogen stand »Geliebter Sohn«. Das fühlte sich besser an, denn es sagte nichts über dich aus, sondern nur über meine Liebe zu dir. Aber auch dieses Blatt habe ich zerrissen. Nicht, dass ich dich nicht mehr liebe, aber kaum dass ich es niedergeschrieben hatte, spürte ich deine Zurückweisung.
Du bist mir fremd geworden. Ich weiß, dass es dich schmerzt, wenn du diese Zeilen liest, aber mich trifft dieses Eingeständnis nicht weniger. Auch hier die Hürde der falsch gewählten Worte. Diese Vorsicht, mit der ich Begriffe austausche, an den Sätzen feile, um Missverständnisse zu umgehen. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob es dich schmerzt. Aber kann ich schreiben: Ich hoffe, dass es dich schmerzt? Ich wünsche mir, dass es dich schmerzt.
Ich sehe dich zustimmend nicken. Das würde deine Sicht unserer gemeinsamen Geschichte untermauern. Du würdest darin nicht meinen Wunsch sehen, dass ich dir gerne etwas bedeuten würde. Du würdest herauslesen, dass ich dir Schmerz wünsche. Unsere Gespräche sind, seit du fünfzehn warst, an den Formulierungen gescheitert. Damals hatte ich den Eindruck, du suchtest danach. Du suchtest die Sätze nach ihren Schwachstellen ab, um sie zu zerbrechen.
Dein Vater und ich sind immer der Meinung gewesen, dass elterliche Liebe, Bildung und ein intaktes soziales Umfeld einem Kind optimale Entwicklung garantieren. Heute bezweifle ich das!
Oh, ich höre dich sagen, dass ich es mir mit dieser Überlegung leicht mache. Dass ich versuche, mich meiner Verantwortung zu entziehen. Aber das stimmt nicht. In dem Wort Verantwortung steckt das Wort Antwort. Ich suche eine Antwort auf die Frage: Habe ich einen Mörder geboren, oder habe ich einen Mörder erzogen? Aber egal, wie die Antwort ausfällt, ich fühle mich schuldig. Meine Schuld, Christian, nicht deine. Deine ist, und das sei in aller Deutlichkeit gesagt: Du bist mit 22 Jahren ein erwachsener Mann bei geistiger Gesundheit und für deine Tat verantwortlich.
Trotzdem möchte ich es gerne verstehen.
Lass uns unsere Erinnerungen nebeneinanderlegen, aufdecken und vergleichen, wie bei einem Memory-Spiel. Erinnerst du dich an unsere Memory-Abende? Stundenlang konntest du dieses Spiel spielen. Du hast fast immer gewonnen. Manchmal hast du deinen Geschwistern geholfen, auf deinen Sieg verzichtet. »Schenk ich dir«, hast du dann zu deinem Bruder oder deiner Schwester gesagt. Ich war gerührt. Später, als deine Geschwister ohne deine Hilfe gewinnen konnten, wolltest du nicht mehr spielen.
Vielleicht finden wir auch jetzt, in unseren Erinnerungen, identische Bilder. Diese Pärchen können wir dann beiseitelegen. Diesmal geht es nicht um den größten Kartenstapel. Lass uns die Karten genauer ansehen, die sich unterscheiden. Die wir rückblickend, jeder auf seine Weise, verändert haben, um sie erträglich zu machen.
Du warst der Erstgeborene. Ein kräftiges, freundliches Kind und von einer fast stoischen Ruhe. »Was für ein liebes Kind«, hörte ich von allen Seiten. »So genügsam.«
Wenn ich dich zum Spielen in den Laufstall setzte, konntest du dich stundenlang alleine beschäftigen. Wenn ich dich abends in dein Bettchen legte, musste ich nicht bleiben, bis du eingeschlafen warst. Dein Plüschmond, in dem eine Spieluhr »Guten Abend, gut’ Nacht« spielte, reichte dir. Nur wenn du dir wehgetan hattest, warst du nicht wiederzuerkennen. Ein Anstoßen oder Hinfallen, und du hast dich über Stunden nicht beruhigt. Dein erstes blutiges Knie war eine Katastrophe. Du hast geschrien und fast bis zur Ohnmacht hyperventiliert.
Als Sebastian zur Welt kam – du warst drei Jahre alt –, ging deine Genügsamkeit verloren. Weinerlich hingst du ständig an meinem Rockzipfel. Ein halbes Jahr später kamst du in den Kindergarten, und die ersten Tage waren dramatisch. Du hast geschrien, geweint, geschlagen und dich zweimal fast ohnmächtig geatmet. Dann war es vorbei. Es ebbte nicht ab, wurde nicht nach und nach weniger, nein, es war eines Morgens einfach vorbei. Aus deiner Kindergartenzeit kann ich mich nur an einen Vorfall – kurz bevor du in die Schule kamst – erinnern. Du hattest ein dreijähriges Mädchen so verprügelt, dass es im Krankenhaus genäht werden musste, aber du zeigtest nicht das geringste Unrechtsbewusstsein. »Die hat mich geschubst«, hast du gesagt.
Du solltest dich bei dem Mädchen entschuldigen. Kein Wort kam über deine Lippen. Drei Tage musstest du am Frühstückstisch sitzen, während die anderen spielten. Dann gaben die Erzieherinnen auf. Aber du nahmst weiterhin am Frühstückstisch Platz. Als sie dich drängten, zu den anderen Kindern zu gehen, sagtest du: »Erst müsst ihr euch bei mir entschuldigen.« Diese Episode wurde noch Wochen später mit der Bemerkung »Kindermund« lachend erzählt.
Aber dir war es ernst, nicht wahr? Bitterer Ernst.
Wie sieht deine Karte zu diesem Ereignis aus? Sie zeigt dich, nicht wahr. Dich an diesem Frühstückstisch. Dein großes Leid.
War es damals schon so? Warst du damals schon ohne jede Empathie? Gab es damals schon diese Mitleidlosigkeit, die mir später unerträglich wurde?
Was hast du empfunden, als du ihr die Schlinge um den Hals gelegt hast? Hast du etwas empfunden?
Nein, nein! Ich will es gar nicht wissen.
Ich höre deinen Vorwurf, und du hast recht. Ich greife vor. Lass uns die nächste Karte aufnehmen. Vier Jahre später, in der dritten Klasse der Grundschule.
Du warst ein guter Schüler und durchaus beliebt. Aber lass uns von Jens sprechen. Erinnerst du dich an Jens? Wie sieht deine Erinnerungskarte zu Jens aus? Auf meiner Karte ist er ein Junge, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Es war ein Freitag. Selbst das weiß ich noch. Ihr hattet Schulschwimmen. Ihr seid um das Becken gerannt und zusammengestoßen.
Du hast ihn fast ersäuft, Christian, erinnerst du dich? Mit dem Notarzt musste er abtransportiert werden. Und wieder kein Wort von dir. Ein Schulterzucken und ein Blick, der zu fragen schien: Wieso regt ihr euch so auf?
Als man dich zur Strafe vom Schwimmunterricht ausschloss, hast du bittere Tränen vergossen.
Hier beginnt mein Wegsehen. Ich redete mir ein, es seien Tränen der Reue. Aber ich wusste es besser. Du weintest um dich. Du weintest, weil man dir unrecht getan hatte.
Dein Vater fand Erklärungen für den Vorfall. Er sprach von »über die