Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 2). Detlev Sakautzky
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Frau Solltau hatte wiederholt Suchanfragen aufgegeben. Die Eltern waren mit zwei Pferden und einem mit Haushaltssachen bepackten Leiterwagen aus Ostpreußen, in Richtung Westen, geflüchtet.
Auf der Flucht
Vor der Flucht aus Ostpreußen vereinbarte Frau Solltau mit den Eltern eine Kontaktadresse. Von Tante Paula, die in Berlin wohnte, die Kontakte vermitteln sollte, hatte sie bis jetzt noch keine Nachricht erhalten. Heute jedoch war ein Brief von Tante Emma angekommen. Sie teilte mit, dass die Eltern in einem kleinen Dorf in der Nähe von Grevesmühlen in Mecklenburg wohnten.
Hans freute sich. Sein Opa lebte. Jeden Tag war er in Neukirch, einem kleinen Ort in der Elchniederung, mit ihm zusammen gewesen. Im Stall oder auf dem Feld, er war immer dabei. Ohne Opa ging nichts, mit Opa ging alles. Sofort schrieb Hans den Großeltern einen Brief. Opa wird sich sehr freuen, dachte Hans, und legte einen kleinen Zettel in den Briefumschlag der Mutter.
„Lass uns zu Opa fahren“, bettelte Hans und schüttelte die Hände der Mutter.
„Der Winter steht vor der Tür. Wir besuchen Opa und Oma nächstes Jahr in den Sommerferien“, versprach die Mutter leise und streichelte Hans über den Kopf.
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Die zugeteilte Kohle hatte Hans mit der Mutter in einem vom Bauern geliehenen Sack in die Wohnung geschleppt und in die Holzkiste geschüttet. Das Brennmaterial reichte nur für eine kurze Zeit. Frau Solltau ging immer wieder in den Wald und sammelte mit anderen Flüchtlingen abgebrochene Äste und sonstiges herumliegendes trockenes Holz. Dieses zerhackte sie mit einem kleinen Beil, das ihr die Bäuerin geliehen hatte. Die Holzstücken steckte sie in einen Sack und trug diesen auf dem Rücken nach Hause. Die Bauern mussten eine vorgegebene Anzahl von Bäumen schlagen und abliefern. Die Stämme wurden mit Pferden aus dem Wald gezogen. Die abgeschlagenen Äste blieben am Platz liegen und wurden von den Flüchtlingen klein gehackt.
Hans beaufsichtige während der Abwesenheit der Mutter seinen kleinen Bruder und spielte mit ihm. Die Mutter war stolz auf ihn. Die übertragenen Aufgaben erfüllte er, ohne zu murren. Im Unterricht strengte er sich an, meldete sich auf Fragen des Lehrers und wurde wiederholt von diesem gelobt. Seinen kleinen Bruder hütete er wie seinen Augapfel. Sonntags ging die kleine Familie gemeinsam zur Kirche. Hans saß mit Robert und der Mutter immer in der ersten Reihe rechts unter der Kanzel. Der Pastor und der Kantor kamen aus dem Nachbarort. Jeden zweiten Sonntag, um vierzehn Uhr, läutete Herr Rode die Glocke zum Gottesdienst. Es kamen nur wenige Leute. Überwiegend waren es Flüchtlinge und Vertriebene, die Beistand und Hilfe suchten. Am letzten Sonntag bat der Pastor Frau Solltau und Hans bestimmte Aufgaben für die Kirche zu übernehmen.
„Der Innenraum der Kirche ist vor dem Gottesdienst zu reinigen, die bescheidene Kollekte ist einzusammeln, die Schilder für die Liedernummern sind zu stecken. Durch Hans ist der Blasebalg für die Orgel zu treten. Der Stab mit dem Jesuskreuz ist bei jeder Beerdigung zu tragen. Zu jedem Kirchgang und täglichen Feierabend ist die Glocke zu läuten“, sagte der Pastor im Beisein des Kantors. „Natürlich gegen ein Entgelt. Herr Rode, der diese Aufgaben bis jetzt erfüllte, zieht zu seiner Tochter nach Magdeburg. Ich möchte ihnen gerne diese Aufgaben übertragen“, schloss der Pastor seine Ausführungen.
Nach dem Abendessen sprach Frau Solltau mit Hans über das Angebot des Pastors. Hans war bereit, der Mutter zu helfen. Da die Kirche sich auf dem Friedhof befand, gruselte es ihn. Er hatte Angst vor den Toten in den Gräbern und den Geistern. Die Kirche hatte keine elektrische Innen- und Außenbeleuchtung. Die Treppe zum Glockenturm war sehr steil. Frau Solltau hatte vom Pastor eine Stalllaterne erhalten, deren Kerze Hans vor dem Betreten des Friedhofs, besonders im Winter, anzündete. Oben, unter dem Dach, befand sich der schwenkbare Glockenstuhl, an dem die Glocke und ein dickes Seil angebracht waren.
Hans zog das Seil nach unten, der Glockenstuhl bewegte sich. Das Geläut begann. Fünf Minuten musste geläutet werden. Gemessen wurde die Zeit mit einer Sanduhr. Nach dem Läuten verließ Hans, sich ständig umsehend und laut singend, eilig den Innenraum der Kirche. Er verschloss mit einem großen Schlüssel die Kirchentür und eilte nach Hause.
Hier wartete die Mutter.
„Das hast du gut gemacht“, lobte ihn die Mutter und streichelte Hans über seine lockigen dunklen Haare.
Von seiner Angst erzählte Hans nichts. Das Entgelt, das der Pastor der Mutter vor Weihnachten einmal jährlich auszuzahlen beabsichtigte, brauchte die kleine Familie.
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Nach der Kartoffelernte folgte die Zuckerrübenernte. Die von den Blättern getrennten Rüben wurden aufgesammelt und auf mehrere Haufen geworfen, später eingemietet oder abgeliefert. Die Sammler erhielten Geld oder Zuckerrüben für den Eigenbedarf. Frau Solltau nahm die angebotenen Zuckerrüben und kochte schmackhaften Sirup für den Brotaufstrich. Die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Brennstoffen, Kleidung und sonstigen Utensilien bestimmte weiter das tägliche Tun und die Fantasien der kleinen Familie.
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In der Nähe des Weges zur Schule lag ein abgestürztes Jagdflugzeug. Es war für viele Kinder ein interessantes „Spielzeug“. Hans kletterte in das Flugzeug und drehte an allen noch beweglichen Teilen. In seiner Fantasie war er ein tapferer Flieger, der am Himmel den Feind besiegte.
Nach dem Unterricht durchstöberte Hans oft den Schrottplatz, der sich auch in der Nähe des Dorfes befand. Er suchte nach brauchbaren Gegenständen. Manchmal fand er nützliche Sachen für den Haushalt, die er der Mutter mitbrachte.
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Der Winter kam dieses Jahr früher als sonst. Schneefall und Frost machten das tägliche Leben von Tag zu Tag schwieriger. Der kleine Eisenofen brachte nicht die gewünschte Wärme, der Verbrauch an Holz und Kohle war hoch. Frau Solltau heizte den Ofen nur, wenn die Mahlzeiten vorbereitet wurden. Sie froren, deshalb wurden auch in der Wohnung die Mäntel getragen. Nachts gingen Hans und Robert mit der Tageskleidung ins Bett. An Schnee- und Frosttagen fror Hans besonders an seine Füße in den Holzschuhen. Die Mutter hatte Fußlappen um seine Füße gewickelt und das Innere der Schuhe mit etwas Stroh ausgelegt. Trotzdem bildeten sich an den großen Zehen Frostbeulen. Der Schnee klebte unter den Holzsohlen und erschwerte das Gehen. Die Kinder, auch Hans, kamen nicht selten zu spät zum Unterricht. Mit ihren Schuhen trugen sie den Schnee auch in die Klassenräume, die wenig beheizt waren. Dieser taute auf und bildete unter den Schulbänken Pfützen.
Einmal wöchentlich kaufte Hans nach dem Unterricht im Auftrag der Mutter in dem einzigen Mischwarengeschäft im Dorf ein. Die Mutter hatte ihm in einer Umhängetasche eine kleine Milchkanne und eine Anzahl von selbst genähten Beuteln für die Aufnahme von Lebensmitteln und Lebensmittelkartenabschnitten sowie Geld mitgegeben. Er musste lange warten, bis er bedient wurde. Hans kaufte geringe Mengen Brot, Margarine, Zucker, vier Bonbons, Salz, ein Stück Seife, einen halben Liter Milch, zwei Kerzen und zwei Rollen Nähgarn. Die Mutter hatte die einzukaufenden Waren auf einen Zettel geschrieben, den er bei der Verkäuferin abgab. Auf dem Heimweg begegnete er oft einheimischen Kindern, denen es Spaß machte, die Kinder von Flüchtlingen zu schlagen. Nicht selten wurde Hans die Mütze vom Kopf gerissen, die Schulsachen weggenommen und diese danach ins Feld geworfen. Er wurde auf die Nase geschlagen, bis diese blutete. Der Mutter erzählte er davon nichts.
Auf dem Schrottplatz hatte er ein kleines stehendes Messer gefunden, das er in einen Lappen einwickelte und in seiner Umhängetasche versteckte. Die Kinder stellten sich wieder aggressiv vor ihm hin und rissen ihm die Mütze vom