Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 2). Detlev Sakautzky
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Endlich war Heiligabend, die Kinder freuten sich schon lange auf die kommenden Stunden und hofften auf ein Geschenk von der Mutter. Frau Solltau hatte von Frau Seits die Spielsachen ihres Sohnes, der in Frankreich gefallen war, geschenkt bekommen. Bauklötze, Kinderbücher, ein Holzpferdchen, einen Bauernhof, aus Stoff vier Schäfchen und eine Kuh. Die Augen der Kinder strahlten, als die Mutter die Spielsachen verteilte. Hans freute sich besonders über das Holzpferdchen und die Kinderbücher. Das Hungergefühl war bei den Kindern weg. Spielen mit richtigen Spielsachen war ein lang ersehnter Wunsch von Hans. Am Heiligabend ging dieser in Erfüllung.
Zum Abendessen kochte Frau Soltau eine süße Milchsuppe mit Mehlklunkern, es gab dazu eine dünn mit Margarine bestrichene Scheibe Brot. Die Mutter zündete eine Kerze am selbst gefertigten Weihnachtsbaum an. Der Fuß des Baumes steckte in einer runden beschädigten Topfkuchenform, die Hans auf dem Schrottplatz gefunden hatte. Die Form hatte die Mutter mit Kohlenstücken beschwert. Der kleine Baum stand fest und fiel nicht um. Gemeinsam sangen sie das Lied „Ihr Kinderlein kommet“. Die Augen von Hans und Robert leuchteten.
Sie spielten mit den Geschenken bis in den späten Abend hinein. Am Morgen des ersten Weihnachtstages kam Hildegard und schenkte Hans und Robert zwei schöne rotbäckige Äpfel und eine kleine runde geräucherte Blutwurst. Hans bedankte sich bei Hildegard, wünschte ihr und den Eltern ein schönes Weihnachtsfest und schenkte ihr einen besonders großen Tannenzapfen, den er im Wald gefunden hatte.
„Was gibt es heute Mittag zu essen? Es riecht so gut und einmalig“, fragte Hans neugierig die Mutter.
„Heute gibt es ‚Falschen Hasen‘, gebraten und gekocht, Pellkartoffeln und Soße“, antwortete die Mutter.
„Was ist der Unterschied zwischen einem ‚falschen‘ und einem ‚richtigen‘ Hasen“, fragte Hans interessiert die Mutter.
„Falsche Hasen leben im Wald und richtige Hasen im Stall“, sagte die Mutter ganz leise. Hans fragte nicht weiter. Wichtig ist, dass er uns alle satt macht und gut schmeckt, dachte Hans.
Der falsche Hase hatte allen geschmeckt. Hauptsache Hase, ob falsch oder richtig, dachte die Mutter und füllte den Teller zum zweiten Mal bis zum ersten Rand.
Nachmittags war Gottesdienst. Es waren viele Leute gekommen. Die Kirchenbänke waren alle besetzt. Die Gesangbücher reichten nicht für alle und so teilten sich immer zwei Besucher ein Buch. Es wurden Weihnachtslieder gesungen. Hans musste fortlaufend den Blasebalg treten. Ein Flüchtling aus Danzig spielte auf seiner Geige das Lied „Stille Nacht“. Es erwärmte die Herzen der Anwesenden. Alle sangen laut mit und hatten glänzende Augen. Die Älteren unter ihnen weinten. Viele dachten an die an der Front gefallenen Söhne, an die Heimatdörfer, aus denen sie geflüchtet oder vertrieben worden waren. Am Ende des Gottesdienstes verabschiedete sich der Pastor bei allen Gekommenen. Hans läutete die Glocke, bis der letzte Besucher die Kirche verlassen hatte und übergab dann die Kollekte dem Pastor.
„Frohe Weihnachten, Frau Solltau! Im neuen Jahr erhalten sie den Lohn für die geleisteten Dienste“, sagte der Pastor und verabschiedete sich.
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Bis zum Beginn des neuen Jahres hatte Hans Ferien. Es hatte geschneit. Hans und Robert bauten auf dem Bauernhof einen Schneemann. Ein kaputter Stahlhelm, ein kleiner Ast, eine zerfrorene Mohrrübe und schwarze Kohlenstücke schmückten diesen. Frau Pfeiffer hatte Plätzchen geschenkt, die Hans und Robert mit der Mutter nachmittags zum heißen Lindenblütentee gemeinsam aßen.
Die folgenden Wochen und Monate verliefen annähernd so wie die vergangenen Wochen. Am Fastnachtstag ging Hans von Bauernhof zu Bauernhof und sang das Lied vom „Kleinen König“. Die Mutter hatte für ihn eine Larve aus Papier gefertigt und bemalt, die Hans sich vor das Gesicht band. In der Hand hielt er einen Stoffbeutel, in welchen er die geschenkten Sachen hineinlegte. Es waren Kuchen, Bonbons, Äpfel und getrocknete Pflaumen, die er von den Bauern erhalten hatte und zu Hause mit Robert teilte.
Frau Solltau sammelte mit Frau Fettig in den folgenden Tagen wieder trockenes Holz im Wald. Die kalten Temperaturen machten das Leben unerträglich. Einmal gab es durch die Gemeindeverwaltung Braunkohlengruß für Familien mit Kindern. Auch Frau Solltau erhielt eine begrenzte Menge. Hans holte den Braunkohlengruß im Eimer von der Ausgabestelle der Gemeinde und schüttete diesen in den Kohlenkasten, in der Nähe des Ofens. Die Mutter half Hans beim Ausschütten. Er lief mehrmals zur Abgabestelle. Sein Gesicht war mit Schweiß- und Kohlenstaub bedeckt. Im Auftrag der Mutter brachte er einen vollen Eimer mit Kohlengruß zu Frau Fettig. Sie hatte keine Kinder und war gehbehindert.
„Für dich habe ich einige Kekse, die ich selbst gebacken habe. Hoffentlich schmeckten sie dir?“, sagte Frau Fettig und streichelte Hans über die dünnen Wangen.
„Danke! Frau Fettig, ich werde sie mit Mutti und Robert teilen“, sagte Hans und beabsichtigte noch einen Eimer mit Gruß zu holen. An der Ausgabestelle hatte der Angestellte festgestellt, dass Hans schon mehrmals Kohlen geholt hatte.
„Du bekommst nichts mehr, geh nach Hause, du Kohlenklau“, sagte er erbost und drohte mit der Kohlenschaufel.
Hans ging nach Hause, gab die Kekse der Mutter und wusch sich das verschmutzte Gesicht und die Hände. Danach setzte er sich auf den mit einem Deckel verschlossenen Kohlenkasten und las eine spannende Geschichte aus einem Buch, das Frau Seitz ihm geschenkt hatte.
Abends gingen Hans und Robert in den Pferdestall. Der Knecht fütterte die Pferde des Bauern. Er machte die Tröge sauber, mistete aus, schüttete Hafer in die Tröge und gab den Pferden Wasser zum Saufen.
Danach striegelte er die Pferde. Hans durfte helfen. Robert schaute zu. In Ostpreußen hatte der Opa auch Pferde gezüchtet. Hans erinnerte sich gern an die Zeit zurück.
Die Tage vergingen schnell. Die Mutter arbeitete bei den Bauern, sobald sie gebraucht wurde. Im Winter half sie beim Dreschen des im Herbst eingefahrenen Getreides, im Frühjahr bei der Bodenbearbeitung. Sie besserte die Kleidung der Bauern aus und sammelte Holz. Hans ging täglich und gerne zur Schule.
Im Frühjahr wurde es wärmer. Jetzt ging er barfuß. Seine Füße waren immer schwarz vom Öl des Holzfußbodens im Schulraum. Abends schruppte Hans die Füße mit einer harten Bürste sauber. Die Mutter half ihm dabei. Barfuß gehen war für Hans ein schönes Gefühl. Gern ging er im Matsch und in den Wasserrinnen, ungern auf Stoppelfeldern. Die Stoppeln zerspickten und zerkratzten die Knöchel, die dann beim Waschen besonders wehtaten.
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Frau Solltau bereitete die Reise zu Opa und Oma vor. Bettwäsche und persönliche Kleidung wurden in die Koffer gepackt. Opa erhielt Schnupftabak, den Frau Solltau für ein Paar Ohrringe eingetauscht hatte. Die Mutter sollte Kernseife bekommen. Anfang Juli wurde die Reise angetreten. Nach zwei Stunden Fußmarsch erreichte die kleine Familie den Bahnhof. Die Zugfahrt dauerte zwölf Stunden. Die Reisewagen waren überfüllt. Freie Sitzplätze gab es nicht mehr und so saßen die Kinder auf den Gepäckstücken. Sie mussten mehrmals umsteigen, bis der Zug mit vier Stunden Verspätung den Zielbahnhof erreichte. Opa und Oma warteten mit den Pferden und einem kleinen Kastenwagen vor einem kleinen alten Bahnhof. Oma, Opa und die Mutter weinten und schluchzten. Drei lange Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Inzwischen war viel passiert. Der Sohn und Bruder war zum Kriegsende in Albanien gefallen. Andere Verwandte waren auf der Flucht gestorben. Tante Anna, die Schwester der Mutter, war als Rotkreuzschwester bei den Engländern in der Kriegsgefangenschaft.
Die Großeltern waren über den Landweg von Ostpreußen mit einem Gespann