Das Lied der Eibe. Duke Meyer

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Das Lied der Eibe - Duke Meyer

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unsere moralische Überlegenheit. Erkennen wir die Ähnlichkeiten jedoch gar nicht oder ignorieren wir sie – zum Beispiel, wenn wir von unserer moralischen Überlegenheit schlichtweg (also gedanken- und kritiklos) ausgehen –, geben wir damit unseren Hammer aus der Hand. Und dann verlieren wir, selbst wenn wir nominell gewinnen, Wesentliches. Was wäre gewonnen, wenn wir uns hernach lediglich an derselben Stelle, auf denselben Positionen wie unsere Widersacher wiederfänden, die wir äußerlich bezwungen haben mögen, aber inhaltlich, vom Tun und Lassen her, nicht mehr von ihnen unterscheidbar wären? Wäre dann nicht ihrer Geisteshaltung der Sieg zuzuschreiben, wenn wir unsere Aufgaben unterwegs verlieren, des einen oder anderen kurzfristigen Vorteils (oder eben des ganzen nominellen Sieges) willen?

      Ich behaupte: Wer die Ähnlichkeit zum eigenen Gegner nicht erkennt und anerkennt, ist schon dabei, ihm den Sieg zu schenken – weil es zunehmend egal werden könnte, wer ihn erringt.

      Was hat das alles mit Thurisaz, der dritten Rune zu tun? Zunächst nichts. Ich kann es aber gerade am Beispiel dieser Rune nicht lassen, vor allzu schnellen Wertungen zu warnen. Moralische Überlegenheit, von der hier mehrfach die Rede war, ist ein hauchdünnes Gewebe – eine unbedachte Bewegung, und es bleibt irgendwo hängen und zerreißt… Wie schnell ist dieses zarte Ehrengewand dahin und hinterlässt uns entblößt!

      In der Edda-Erzählung „Des Hammers Heimholung“ ist eine interessante Weisheit verborgen. Genüsslich wird geschildert, wie der Donnergott seinen von den Riesen geraubten Hammer, der ja in gewisser Hinsicht seine Identität darstellt, nur dadurch zurückgewinnen kann, indem er ein anderes, ihm offenbar wichtiges Identitätsmerkmal verleugnet: seine Männlichkeit. Der vordergründig derbe Schwank, dessen hochmittelalterliche Ausstattung nicht mehr viel Germanisches hat, hält damit einen überraschenden Feinsinn bereit, der allerdings unter dem groben Getobe erst einmal entdeckt werden will. Die Nebenbedeutung des Hammers als männlich apostrophiertes Fruchtbarkeitssymbol macht den Angelpunkt des Plots pikanter, als dessen dramaturgische Schlichtheit zunächst vermuten lässt. Allen Getues und Gepränges entblößt, ließe sich die Story glatt so deuten: Der Donnergott erhält das geraubte Hauptattribut seiner Männlichkeit nicht eher zurück, als er sich bereit zeigt, auf sein Mannssein ganz zu verzichten (obzwar nur zum Schein und als taktische Geste beziehungsweise Hinterlist, aber das ändert nichts am faktischen Sinn: den mal ganz ungeschminkt und unverkleidet betrachtet).

      Es geht mir hier an dieser Stelle nicht um eine Genderfrage, sondern um das Wiedererlangen einer Identität (und zwar gleich welchen Inhalts). Deren gestisches Aufgeben sehe ich als springenden Punkt. Das hat – selbst wenn es so klar nicht intendiert gewesen sein mag (zumindest nicht bei Nacherzähler und Ausschmücker Snorri S., von dem wir die Geschichte haben) – initiatorische Qualitäten. Dass die in dem Fall über ein Attribut wie „Männlichkeit“ transportiert werden, halte ich für einen eher unbewussten Erzähl-Kniff zugunsten damals größtmöglicher Verständlichkeit. Unser heutiges Stirnrunzeln oder Augenverdrehen über Gründe und Auswirkungen sozialer Spurrillen, Unwuchten und Klischees wären zu den Entstehungszeiten des Schwanks – oder gar jener (uns unbekannten) Geschichten, die ihm vorausgingen, um in ihm zu münden – nicht ahnbar gewesen. Im Klartext: Ich bezweifle, dass vor siebenhundert oder noch mehr Jahren am Rollenverständnis der Geschlechter so gezweifelt werden konnte wie heute gezweifelt werden muss: Dieser Zweifel ist eine neuzeitliche, überaus junge Errungenschaft. Auch wenn es hier wie da zum Verzweifeln sein mag… und sich darüber hinaus die hochmittelalterlichen Geschlechterrollen von altgermanischen unterschieden haben mögen. Das aber lässt sich schwerlich anhand der Thrymskviða thematisieren, da der Schwank keine Spur davon enthält.

      Plattes Moralisieren jedenfalls verengte unsere Sicht (nicht nur auf Runen) derart, dass ich es nirgends empfehlen kann, sondern dringend davon abrate. Wenn wir das Chaos für schlecht oder böse halten, nähern wir uns ihm anders, als wenn wir seine Eigenschaften unter zunächst ausschließlich dem Gesichtspunkt betrachten, wie sie sich wo auswirken und welche Folgen sie unter welchen Umständen haben. Eine solche Kühlheit der Betrachtung hat etwas Künstliches, sie gestattet uns jedoch einen klaren Blick auf die Parameter – und zwar alle. Die Mythen wiederum zeigen, dass die ihnen wesensgemäße Gefühlsbetontheit noch lange nicht aufs Glatteis von Gut-Böse-Plattheiten führen muss: Zwar wird die Edda nicht müde, die Riesen als Feinde der Götter und insbesondere Thors zu beschwören – doch tummeln sich (nicht nur mit Gjerda und Skadi) gebürtige Riesinnen sehr intim bei den Asen, dem Riesengeschlecht, dem auch Loki entstammt, und mit jenem Thursen, der in der Geschichte von Thors Fischzug durchs Kappen der Leine fürs Happy End sorgt, ist der Donnergott offenbar verkumpelt. Die Ausnahmen sind derart zahlreich und plastisch, dass das Klischee, dem sie entstammen, ohne so recht hineinzupassen, zumindest als solches bezweifelt werden will. Die Rivalität zwischen Göttern und Riesen erscheint so höchstens noch als – angesichts Ragnarök durchaus schwerwiegende – Tendenz, keinesfalls aber als durchgehendes Dogma. Letztlich geht es nicht um Gut versus Böse, sondern um ein dynamisches Ringen um Balance. Die in den nordischen Mythen geschilderten Figuren verfolgen gemäß ihrer jeweiligen Wesenseigenschaften ihre jeweiligen Interessen. Daraus entstehen Konflikte, aber wenn wir eine Moral daraus ziehen wollen, die dem Stoff gerecht wird, muss sie differenzierter ausfallen – und darf vielleicht sogar widersprüchlich bleiben. Ein Schwarzweißbild im Sinn einer sittenchristlichen Dualität – die Guten gegen die Bösen – ist bei der Beschäftigung mit altgermanischen Mythen, Wert- und Weltbildern unangebracht.

      Wie wollen wir uns den Runen aber nähern, wenn nicht assoziativ? Bei meinen Seminaren und Workshops rege ich, sobald ich erste Ausdeutungen einer Runenreihe vermittelt habe, die Teilnehmenden an, eigene Assoziationen zu finden und vorzuschlagen. Ich ermuntere dazu, auch absurd erscheinende Ideen erst einmal zuzulassen – sie können leichter zu besseren führen als das Abnicken von Vorgekautem, das persönlich vielleicht nicht genügend überzeugt. So sah zum Beispiel eine ältere Teilnehmerin (bei einem Workshop 2011 in Hamburg) typische Thurisaz-Kräfte ausgedrückt im „Geschrei eines Babys“. Volltreffer – oder? (Wer je einem Säugling rund um die Uhr nahe sein durfte, mag erahnen, wie gut diese ungewöhnliche Assoziation passt.) Es muss kein hundertprozentiger Konsens gefunden werden zu einzelnen Ausdeutungen. Wichtig ist, dass es persönliche sind, die den eigenen Gefühlen und Erfahrungen entsprechen.

      Oder wie beschrieb ich Thurisaz einst, als ich sie – tatsächlich selber in Wut – unversehens als Tagesrune zog:

      „Thurisaz – Riesen-Rumms. Duck dich, Disney, jetzt platzt der Ponyhof und Bambi fliegt in Teilen übers Dach, das folgt ihm gleich. Sturm und Feuer tanzen Tango und streiten sich dabei, wer führt. Haus und Hof schmecken ihnen gut, oder was immer ihre Nahrung ist. Sie sind nicht wählerisch, sie nehmen, was sie vorfinden. So ähnlich wie Wut: Ihr Resultat kann beliebig weit entfernt vom Anlass sein – Hauptsache, sie tobt sich aus. Muss sie auch: Sonst geht, auch wenn das jetzt zynisch klingen sollte (ist es aber nicht, ätschi-bätsch, und beweisen muss ich gar nix, glaub mir oder fick dich doch – oder, wie ich gestern so schön belauschte: '…kannst dir auch einen Finger in den Arsch stecken und Hubschrauber spielen…'), noch mehr kaputt. Explosionen sind gesund.

      Finden zumindest Thursen und Psychologen. Zweitere kann ich nicht erklären – entweder, ich verstehe sie nicht, dann irritieren sie mich, oder ich verstehe sie, dann graust es mir. Mich können sie nicht verstehen, denn ich passe zu schlecht in ihr Handwerkszeug. Dumm gewachsen! Vor Thursen graust es mir nicht, heute wäre ich am liebsten selbst einer. Bäm! Und runter mit dem Schiffchen auf den Grund – einfach der schönen Welle wegen. Höre ich Mecker? Dann kann ich sie auch in den Hafen schicken, wo ihr sie Hafenwelle taufen dürft, auf Undeutsch Tsunami. Es kommt natürlich umgekehrt, sie tauft euch, und das ist dann nicht der Anfang eurer Biografien, sondern ihr Ende. Richtig geraten, Riesen sind in der Regel und auch außerhalb von solchen tendenziell rücksichtslose Gesellinnen. Es ist nicht gesagt, dass sie doof sind. Aber ich würde, selbst wenn sie nur diskutieren, in Deckung gehen. Sie wickeln ihre Argumente gern in Materie ein, das verleihe ihnen mehr Durchschlagskraft. Ist auch so.

      Sonst ein großer Bewunderer des Bewusstseins, versetze ich mich heute mal walkür-, äh, willkürlich auf die andere Seite

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