Das Lied der Eibe. Duke Meyer
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Betrachtungen zur Rune Fehu: von beweglicher Habe zur Abstraktion persönlichen Potentials
DAS LIEBE VIEH
Widmen wir uns Fehu, der ersten Rune im Älteren Futhark, die damit auch die erste Achterreihe eröffnet. Am Anfang war das Vieh. Das typische nord- und mitteleuropäische Hausrind vor rund zweitausend Jahren dürfen wir uns getrost als höchstens halb so groß vorstellen wie das arme Boxenrindvieh von heute und die Euter der Kühe waren natürlich winzig: noch nicht überzüchtet – weder das Tier noch sein Gehänge. Aber was soll die Viecherei?
Hausvieh war Tauschmittel. Innerhalb einer Stammesgemeinschaft brauchte zwar vermutlich kein Mensch irgendwelche persönlichen Zahlungsmittel, aber die Sippen und Stämme untereinander mögen mit Vieh gehandelt haben. Rinder waren „bewegliche Habe“ – wer viel davon hatte, war reich. Daher wird Fehu heute gern die Bedeutung „Geld“ zugeschrieben. Was durchaus richtig ist. Es greift nur ein bisschen kurz. Geld ist – mal wieder – nicht alles. Dein ganzes Vermögen kann gemeint sein: das über Finanzen und Besitz hinausreichende oder sogar… etwas davon Unabhängiges! Sieh es mal so: Was vermagst du? Kann „Vermögen“ auch heutzutage nicht viel mehr sein – oder noch etwas ganz anderes – als ausschließlich finanzielle oder materielle Habe? Kenntnisse, Erfahrungen, anwendbare Fertigkeiten – das alles gilt, gehört dazu! Fehu ist das jeweils zur Verfügung stehende Potential. Woraus immer das bestehen mag! Was finanzielle Möglichkeiten mit einschließt. Aber es beschränkt sich nicht auf sie.
Was immer geschaffen werden soll: Es muss Energie hineingesteckt werden – ob Geld, Arbeitskraft, Hirnschmalz, sonstiges Engagement oder eine Mischung von alledem. Derartiges Potential nenne ich Fehu. Die Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang: Ein Rindvieh, das irgendwo auf der Weide grast, hat für sich genommen mit keiner Rune was zu tun – erst wenn es als Tauschwert, Investitionskapital oder Vermögen eingesetzt wird, würde ich Fehu dazu sagen. Und das kann selbstverständlich auch jederzeit etwas anderes sein als Vieh.
Woraus besteht der Energieeinsatz für deine Unternehmung? Was braucht die zum Gelingen – oder um überhaupt in die Gänge zu kommen?
Die erste Runen-Achterreihe veranschaulicht Schöpfungsprozesse, zeigt typische Verläufe des Werdens, Entstehens, Erschaffens. Sie beginnt mit der Potentialrune Fehu und endet mit Wunjo, der Wonnerune. Je mehr Energie du am Anfang hineinbutterst, desto größer ist am Ende die Freude – wenn alles klappt. Von den acht exemplarischen Stationen solchen Schaffens kann jede scheitern außer einer. Aber davon später. Noch brauchen uns keine Wenns und Abers zu interessieren. Das Schöpfungsprinzip ist im Wesentlichen immer das gleiche und es ist grundsätzlich möglich – das reicht für den Anfang (und meistens sogar für den ganzen Verlauf).
Bleiben wir zunächst beim Geld. Meist brauchen wir ja welches – für was auch immer. Wenn die Geldrune am Anfang des Futhark steht – was heißt das? Das heißt, dass sie am Anfang, und zwar nur dort, steht: am Beginn, damit es losgehen, etwas passieren kann. Es folgt eine andere Rune und auf die wiederum eine nächste, und so weiter bis zum Schluss. Fehu ist wichtig, ohne sie ginge gar nichts – aber drehte sich alles nur um sie, ginge nichts voran und nichts weiter. Es gäbe kein Runensystem, kein Werden, kein Erfahren und Wissen, kein daraus resultierendes Tun und Lassen. Dieses Buch könnte hier enden.
Der kranke Aspekt an der Geldgier unserer Gesellschaft ist nicht das Geld an sich, sondern die ihm zugestandene absolutistische Rolle, die alle anderen Werte an den Rand drängt – und mittlerweile allem, was nicht mit einem Preis ausgestattet werden kann, jede Wertigkeit abspricht. Der profitsüchtige Charakter onaniert sich unablässig in Ekstase am Konjunktiv des noch zu gewinnenden oder weiter zu vermehrenden Reichtums, steht dabei aber nicht unbedingt mit irgendetwas Wirklichem in Kontakt. Die Energie, die er dabei verbraucht, ist allerdings real – und es ist nicht seine eigene.
Die wirkliche Welt ausschließlich über ihren Geldwert zu erfassen, entspricht einer Beschäftigung mit Runen, die sich auf die erste von 24 beschränkt – womöglich mit der Begründung, dass es ja die erste sei: die Nummer eins. Die wichtigste von allen. Tatsächlich gibt es eine „wichtigste von allen“ – und zwar genau 24mal. Ohne Fehu kann nichts beginnen; ein Futhark ohne Fehu kannst du wegschmeißen – ob als Denksystem oder handwerkliches Set. Es ist unvollständig. Insgesamt unbrauchbar. Da können die restlichen 23 noch so schön und gelungen sein. Ohne die eine verkommen sie zur Dekoration – sowohl im Gehirn als auch in der Hand. Das gilt allerdings für alle anderen auch. Nicht nur für Fehu, sondern gleichermaßen für Uruz, Thurisaz, Ansuz und alle folgenden bis hin zu Othala und Dagaz. Erst alle zusammen ergeben ein sinnvolles Gefüge. Seine Komponenten sind höchst unterschiedlich, aber gleichwertig. Lass eine einzige Rune fehlen und das Ganze wird so nützlich wie ein Computer ohne Stromzufuhr.
Wie ein Computer ist auch jedes Futhark ein künstliches Gebilde. Die Natur ist da weiter, aber die hat auch ein paar Milliarden Jahre mehr Erfahrung als wir. Ein Mensch bleibt ein Mensch, auch wenn einzelne Körperteile fehlen oder nicht zu gebrauchen sind. (Erschreckend viele kommen ja ohne Hirn zurecht, das heißt, ohne von dessen angeborenen Möglichkeiten nennenswerten Gebrauch zu machen, von so titulierbarem Bewusstsein ganz zu schwelgen – oder ohne Herz, womit ich jetzt nicht den Muskel meine… Das mag die Betreffenden nicht allzu anziehend für andere machen – aber es sind alles Menschen und bleiben immer welche: ebenso wie die ohne Arm, Bein, Leber, Auge oder was auch immer…) Wer Schach spielen kann, braucht nicht alle Figuren – das Spiel selbst bedingt ja ihr allmähliches Verlieren – es reicht, die Regeln zu kennen. Der Rest ist eine Frage der geschicktesten Anwendung. Das Futhark ist weder ein biologisches Wunderwerk, das selbst mit erheblichen Einschränkungen noch sein Potential entfalten kann, noch ein Kampfspiel, das auf ein bestimmtes Ergebnis zielt und dafür Verluste in Kauf nimmt, ohne die sich gar nichts bewegen ließe auf dem Feld. Die Funktionsfähigkeit des Älteren Futhark beruht auf der Verfügbarkeit seiner 24 Komponenten – und dem Verständnis ihres Zusammenhangs.
Ein Futhark ist kein Alphabet, nicht nur wegen der ganz anderen Zeichenreihenfolge, sondern wegen der vielschichtigen Bedeutung der Zeichen, was entsprechend komplexere „Verschaltungen“ sowohl innerhalb als auch zwischen den jeweiligen Bedeutungsebenen ergibt. Runen lassen sich auch als Schreibschrift verwenden, aber lang nicht so gut wie Alphabete, die ausschließlich für diesen Zweck gedacht sind. Doch bereits ein Alphabet ist nicht mehr so gut zu gebrauchen, wenn ihm auch nur ein einziger Buchstabe fehlt – womöglich ein anderer als das (im Deutschen) noch relativ selten benötigte „Y“. Ohne „A“ oder „E“ wird es schon richtig ärgerlich. Je nach Anwendung kommen wohl auch einige Runen häufiger, andere seltener zum Einsatz. Doch letztlich benötigst du alle – auch wenn du vielleicht nur ein paar davon benutzt. Sie bedürfen der Vollständigkeit ihres Systems, weil sie zu ihm gehören. Aus ihm zieht jede einzelne Rune ihre Kraft. Das Ganze als eine Einheit schwingt immer mit… Ich betone das, weil ich den Effekt kenne – und auch für ganz normal halten darf –, dass jede und jedem zunächst einige Runen auf Anhieb „einleuchten“ oder „liegen“ – während sich zu manch anderen zunächst (oder auch für längere Zeit) kein persönlicher Zugang finden lässt. Das ging mir ganz genauso, und das nicht nur während der ersten Monate meiner Beschäftigung damit. Manche tieferen (oder höheren – einigen wir uns vielleicht auf „zusätzliche“) Bedeutungen einzelner Runen und Zusammenhänge gingen mir erst nach vielen Jahren auf, als ich schon längst so vertraut mit der Materie war, dass ich meinte, ich hätte den ganz großen Durchblick und nichts könne mich noch erstaunen. Von wegen! Bis heute erfasse ich von den Runen wahrscheinlich nicht mehr als Columbus von Amerika oder die nächstbeste Sternguckerin vom Weltall. Oder gar ein Psychologe vom echten Leben? Inzwischen glaube ich, dass es keine Grenze der Erkenntnis gibt – vielleicht eine des persönlichen Fassungsvermögens (öfter aber, meine ich, der entsprechenden Bereitschaft). Hier fast mit dem menschlichen Charakter vergleichbar,