Das Lied der Eibe. Duke Meyer

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Das Lied der Eibe - Duke Meyer

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ungeheure Kraft in jedem einzelnen steckt, lässt die gleichnamige Bombe erahnen. Erzähl dir also nicht (und lass dir nicht erzählen), du hättest kein Potential. Schau lieber, wo es steckt und wie du es förderst. Dieses Vieh zu sammeln und zu treiben, ist der erste Schritt in ein erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben. Jedes selbstbestimmte Leben ist erfolgreich. Wenn es dir daran mangelt, übersiehst du entweder deine Erfolge (vielleicht zählst du die falschen?) oder du lebst nach Werten, die dir schaden. Überprüfe, ob das, woran du glaubst, dir auch nützt. Woher hast du deine Ansichten eigentlich?

      Fehu fragt dich (oder, anders ausgedrückt: Du fragst dich mittels Fehu), was funktioniert. Es beginnt mit deiner Vorstellungskraft. Je größer diese ist – sie lässt sich übrigens trainieren, und das womöglich leichter als Muskeln oder Intelligenz –, desto mehr Raum lässt sich schaffen für das, was kommt, was kommen soll, was du brauchst. Wir erinnern uns: Auch und gerade dein Einfallsreichtum, dein Vorstellungsvermögen, gehört zum Potential. Zu Fehu. Fang an.

       „Ich trete hier auf heut‘,

       Hab‘s lange geprobt,

       Weißgott nicht nur dafür,

       Dass man mich lobt.

       Auch wenn‘s noch so leicht aussieht,

       Und obwohl‘s mir gefällt:

       Ich mach meine Arbeit für Geld…“

      („Arbeit für Geld“, 2015)

      Bildstein auf Gotland, Schweden

       KAPITEL VII

       Betrachtungen zur Rune Uruz: zur Manifestation des Irdischen, Zugänge zu erdgenährter Kraft

       MUTTER MATERIE

      Es wird konkret. Was passiert mit dem Potential? Von selber nichts – aber das Vieh tendiert ja zur Bewegung. Wir treiben es wohin – oder es treibt, sich selbst überlassen, auseinander (nicht völlig – aber zumindest wird es ohne unser Zutun kaum eine Richtung einschlagen, die uns dient und entspricht). Wenn Fehu das darstellt, was wir vermögen, die Summe unserer Möglichkeiten, so manifestiert sich das, was wir damit anstellen, als ihre Verwirklichung. Das Wahrmachen bringt es in die Welt, sinnlich gesehen auf die Erde. Es materialisiert sich. Die Rune solch irdischer Manifestation ist Uruz.

      Die Urbedeutung ist „Auerochs“. Eine andere „Nieselregen“. Wie passt das zusammen? Unter Umständen gar nicht. Die Deutung als „Nieselregen“ stammt von Seefahrern, die andere aus bäuerlichen Kulturen. Auf See gab es anscheinend wenig Auerochsen. Ich bringe es fertig, sowohl in der einen als auch der anderen Deutung eine Erscheinungsform von „Erdkraft“ zu sehen. (Wer schon einmal in einem Ruderboot von Regen überrascht wurde, weiß, was ich meine. Dabei war ich sicher nicht so lange oder auch nur halb so gefährdet unterwegs wie irgendwelche altgermanischen Seefahrer, sondern nur zum Freizeitspaß. Dies hat allerdings ausgereicht, das nasse Geniesel in der Luft als ziemlich irdische, mir haushoch überlegene Macht zu erfahren.) Was nicht zu heißen braucht, dass an der Assoziation Uruz = Erdkraft historisch irgendwas dran sein muss.

      Beim Aufbau meines Deutungssystems fürs Ältere Futhark ging ich von „Auerochs“ aus für Uruz – von der Variante „Nieselregen“ hörte ich erst später, sie steht dazu jedoch nicht im Widerspruch. Aus dem Bild oder Symbol des Auerochsen kann ich allerdings mehr ziehen, was das Verständnis des Zusammenhangs fördert.

      Zunächst fühlte ich leichte Irritation: schon wieder eine Art Rindvieh?" Als Stadtkind fiel mir der Unterschied zwischen einer Muhkuh und einer anderen Sorte Rind, die ich zudem nirgends in der Natur betrachten konnte, nicht gleich auf. Auerochsen sind seit dem 17. Jh. ausgestorben, im europäischen Raum wichen sie zunehmender Besiedelung durch unsereins. Es waren Wildtiere – nur auf freier Flur zu Hause und im ganzen eurasischen Raum die größten Landbewohner. Nicht nur im Vergleich zu den damals kleinwüchsigen Hausrindern waren sie riesig. Einem hochgewachsenen Mann hätte mancher Urbulle bequem in die Augen sehen können: bei seinen 1,80 Metern Risthöhe. Zudem hatte so ein Bulle ja noch jede Menge Rindskörper hinten dran! Alles an ihnen war lang: Leiber, Beine, Schädel, Hörner – bei aller Kraft und Wucht müssen sie eine unglaubliche Eleganz ausgestrahlt haben. Und dann noch schwarz wie die Nacht, das All, der Abgrund und die Gothics!

      Das pure Leben: in physischer Präsenz. Selbst das nackte Knochengerüst eines Auerochsen im Museum machte mich sprachlos: Wie zum Sprung war das Skelett montiert, Ausdruck unbändiger Wildheit noch lang nach dem Tod dieses einen Exemplars und seiner ganzen Gattung… Fast meinte ich, das Schnauben hören zu können, den Schlamm unter unruhigen Hufen spritzen zu sehen, jeder einzelne ein Manifest von Kraft weit über Pferdestärken hinaus. Hinten ein schlanker, nervös peitschender Kuhschwanz am Arsch einer Riesenmasse Tier – selbst dem phantasielosesten Zeitgenossen hätten spätestens die Hörner Ehrfurcht eingejagt, die sich nicht einmal bewegten in ihrer bleich gewundenen Riesenpracht, da von alledem ja nur ein Knochengerüst übrig geblieben ist. Das eines Auerochsbullen oder einer Kuh! Der Unterschied muss marginal gewesen sein, kaum sichtbar zumindest: Die Euterchen waren wahrscheinlich das Einzige, was an diesen imposanten Tieren „klein“ zu nennen gewesen wäre.

      Solche Bilder sehe ich vor mir, wenn ich an Uruz denke. Schon die Form der Rune hat etwas Kraftvolles, aufrecht Gebuckeltes, Wuchtiges – auch wenn sie nichts Gegenständliches zeigt (keine Rune tut das). Der Gedankengang, um noch einmal auf die „Nieselregen“-Deutung zurückzukommen, die Verlaufsform der Rune bilde das Aufsteigen ozeanischer Wasser (verdunstend) zu den Wolken und ihr anschließendes Niederregnen ab, erscheint mir jedoch zu weit hergeholt. Was aber Geschmackssache ist.

      Wichtiger ist, dass sich die Energie, die sich in Fehu versammelt, in – oder gewissermaßen zu – Uruz verdichtet. Aus dem Vermögen des Möglichen wird handfeste Materie, mindestens aber geballte Kraft: Erdenergie, weil sich diese beiden Begriffe – Materie und Kraft – in diesem Zusammenhang kaum trennen lassen. Uruz verkörpert ihre Verbindung, ihr Miteinander. Ein besseres Symbol als das beschriebene schwarze Urtier kann ich mir kaum vorstellen. Was lässt sich nun für hier und heute, für unser tägliches Leben, daraus ableiten? Ganz konkret: gefühlte Körperlichkeit! Ab da hängt es nämlich nicht mehr davon ab, wie genau unsere Leiber beschaffen sind und dass sie mit archaischen Urtieren kaum Ähnlichkeit haben dürften. So sehr ich aber oben das urtümliche Aussehen mittlerweile längst ausgestorbener Wildtiere beschwor, so konsequent möchte ich – andersherum, sozusagen – das schöne Bild von Freiheit, Kraft und Wildheit auf unser Inneres übertragen. Denn dafür ist es meines Erachtens da. Nicht die äußere Form ist hier das Ziel, sondern nur das Mittel. Ganz egal, wie er aussieht, was er erträgt, stemmen kann oder nicht: Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du dich ihm lustvoll ergibst? Ich rede hier nicht von Sexualität oder dergleichen, das ist mitnichten der Punkt (im Moment) – es geht allein um das physische Spüren. Solang du nicht in einer Situation bist, in der dir dein Körper überhaupt vornehmlich Schmerzen bereitet (was es ja leider auch gibt), muss es doch irgendeinen Zustand geben, in dem du dich physisch wohl fühlst – und zwar ohne großen Aufwand. Das mag individuell sehr verschieden ausfallen, deshalb möchte ich hier nichts pauschalieren. Der eine schätzt vielleicht ein Schlammbad, in dem er sich suhlt wie Sau, der nächsten reicht die Sommersonne auf der Haut oder auch nur dem Hut, die dritte

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