Das Lied der Eibe. Duke Meyer

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Das Lied der Eibe - Duke Meyer

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IV

       Warum und wie Runen in heutiger Zeit sinnvoll anwendbar sind

       GEDANKEN ZUR GEGENWART

      Rund 1.500 Jahre später: Die Kämpfe und Nöte unseres Erzählers (aus dem vorigen Kapitel) sind vergessen. Mama Globus trägt über sieben Milliarden Menschen, weit mehr als je zuvor, und ein Großteil ihrer Zivilisationen lebt mit elektrischem Strom. Die wenigsten Erwachsenen haben noch Angst vor Blitzen oder verehren irgendwelche Donnergötter. Vergöttert wird vielmehr ein weltumgreifendes Magiesystem namens Geld. Selbst der eine große Gott, der keine anderen neben sich zulassen will und damit über anderthalb Jahrtausende höchst erfolgreich war, wird in den Industrienationen oft nur noch geduldet oder als zeremonieller Zierrat aufgefasst. Seine Alleinherrschaft jedenfalls ist vorbei und kehrt genauso wenig wieder wie das Zeitalter der Dampfmaschine und ihrer Vorgängerinnen, allen Dampfplauderern – auch allen Wächterräten, Sprengstoffgürtelzündern, Kalifatserköpfungsmaßnahmen sowie dem gesamten Bible Belt – zum Trotz. Der Himmel ist nicht länger sauber, aber, so weit wir sehen und schießen können, ernüchternd unbewohnt. Wir Menschen fliegen längst selbst über den Wolken. Wer sich‘s leisten kann. Die Mehrheit der Menschheit lernte lesen und schreiben – und macht davon Gebrauch. Nur mit dem Denken hapert‘s noch.

      Wozu sich mit Runen beschäftigen? Sind das nicht so schreckliche Zeichen, die noch schrecklichere Nazis benutzt haben und noch immer benutzen – gehört das nicht zu deren unappetitlichen Erkennungsmerkmalen? Ja, das ist auch wichtig zu wissen. Aber die haben das nur geklaut – und obendrein keine Ahnung. Runen sind weder Ausdruck ethnischer Zugehörigkeit noch Künder vorbestimmter Schicksale. Es sind mehrschichtige Bedeutungsträger, die eine große Anzahl von Interpretations- und Anwendungsmöglichkeiten zulassen. Die germanischen Zeichensysteme stammen aus Agrar- und Nomadenkulturen, die stammesrechtlich organisiert waren – und in vielerlei Hinsicht, was ich keineswegs despektierlich meine, der Jungsteinzeit näher standen als dem Mittelalter. Als mögliche Werkzeuge sind Runen so amoralisch wie ein Satz Messer, Schraubenschlüssel oder die Kochfelder eines Elektroherdes.

      Verabschieden wir uns von der Zwangsvorstellung, dass es eine ausschließliche, immer und überall zutreffende Interpretation für jede Rune – oder auch nur für ein Futhark – zu geben habe. Das einzige Runensystem ohne strittige Bedeutung, mit eindeutiger Auslegung also, ist das neuzeitliche und in keiner Hinsicht als „germanisch“ titulierbare Konstrukt des Rassisten Guido List aus dem frühen 20. Jh.: das so genannte 18er System oder „Armanen-Futhork“. Zu keinem anderen Zweck geschaffen als dem Einteilen von Menschen in wertige und unwertige Sorten, bot es esoterisch angehauchten Herrenrassen-Fanatikern so etwas wie eine göttliche Rechtfertigung ihres Wahns und entsprechenden Denkweisen einen maßgeschneiderten okkulten Überbau. Dass ausgerechnet diese Pseudorunen – in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, nach der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands – ihre größte Verbreitung fanden, ist eine traurige Tatsache, die hier zunächst nicht weiter erörtert zu werden braucht.

      Germanische Runensysteme sind zwischen ein- und (fast) zweitausend Jahre alte Hinterlassenschaften untergegangener Kulturen, die kein Interesse daran hatten, ihrer Nachwelt schriftliche Erklärungen zu hinterlassen. Daher sind historische Runensysteme umstandshalber nur lückenhaft und oberflächlich entschlüsselt – und das ist gut so: Es lässt Raum für Interpretationen und Weiterentwicklungen. Was ich für sinnvoll halte, solange wir wissen (und zugeben), was wir tun und warum. Es besteht nicht die geringste Notwendigkeit, eine stimmige Anwendung von Runen damit begründen zu wollen, dass sie bereits aus der Entstehungszeit dieser Zeichen stamme oder bei irgendwelchen Kulturen, die wir heute „germanisch“ nennen, schon oder noch üblich gewesen sei. Das ist schlichtweg nicht möglich – eine solche Behauptung ist immer unseriös. Wer eine germanische Kultur leben möchte, die sich nicht in Reenactment-Übungen und Freizeitkult erschöpft, sondern rund um die Uhr und ums Jahr, mit einer gewissen spirituellen Ernsthaftigkeit, heutigen Alltagsanforderungen genügen soll und ebenso die Aufgabe hat, das eigene Leben zu bereichern und das soziale Miteinander zu erleichtern, muss sich eine solche Kultur eben schaffen: sie selbst entwickeln.

      Genau dafür liefern die Runen des Älteren Futhark ein mögliches Modell.

      Ohne dass ein solches bereits bei ihrer Entstehung beabsichtigt gewesen sein muss, lassen sie sich in geradezu verblüffender Weise so auslegen und anwenden. Dabei ist es wichtig, unterscheiden zu können, was sich seit der historischen Verwendung dieses Runensystems alles geändert hat und was nicht. Die Lebensverhältnisse sind längst völlig andere als damals – gleich geblieben jedoch, so will mir scheinen, sind die Menschen in ihren grundsätzlichen Bedürfnissen, Wünschen, Nöten, Befangenheiten und Möglichkeiten. Natürlich ist der Alltag in unserer hochtechnisierten und extrem komplexen Zivilisation, ihrer globalen Vernetzung zumal, nicht vergleichbar mit den Lebensanforderungen unmittelbar wetterabhängiger Kleingemeinschaften zwischen Wald und Sumpf. Die Runen bieten aber auch gar keine Anleitungen zum Bau von Langhäusern oder dem Betrieb von Ochsenkarren. Sie erzählen vielmehr etwas über soziales Zusammenleben. Ganz konkret: über den sinnvollen Verlauf projektierter Unternehmungen, über das Erkennen und Weiterentwickeln des eigenen Charakters sowie über die grundsätzlichen Bedingungen, wo und wie beides stattfindet. Alle drei Beschreibungsstränge sind einerseits sehr allgemein, andererseits aber exemplarisch genau gehalten, so dass sie sich ohne weiteres auf unsere heutigen Lebensverhältnisse übertragen lassen. Wie gesagt: Sie enthalten keine Hinweise zum Ausfüllen von Steuererklärungen, Reparieren von Kühlschränken, Pflegen von Bronzeäxten oder Wiederherstellen von Festplatteninhalten. Runenweisheit ist basal: Es geht ums Wachsen und Werden, ums Erkennen und Sinnfinden – und ums Verantworten der eigenen Taten und Unterlassungen. Das gilt im Ochsenkarren wie in Straßenbahn und Flugzeug – auf all unseren Wegen, ob asphaltiert und bereits eingefahren oder nicht. Und auch, wenn wir heute statt Messer, Ahle und Talisman eher ein Smartphone, den (hoffentlich richtigen) USB-Stick und, äh, vielleicht auch einen Talisman bei uns tragen.

       KAPITEL V

       Überblick über Freyrs Ætt: die acht Stationen des Entstehens, Werdens und Vollendens

       DIE ERSTE ACHT: FREYRS SCHÖPFUNG

      Am Anfang steht die Möglichkeit. Was vermagst du, über was verfügst du – frei und uneingeschränkt? Von nichts kommt nichts. Aber Kleinvieh macht auch Mist. Was ist dein Potential? Was setzt du davon ein und wofür? Was und wie viel brauchst du und auf welche Weise gehst du vor?

      Hier, mit der Rune Fehu, beginnt dein Universum der Schöpfung. Sie entsteht aus dem, was du hineingibst in den Prozess. So war das mit dem Anfang des Weltalls, so ist das mit jedem weiteren Projekt, ob Großbauanlage, Gedankengebäude oder Bastelarbeit. Acht Stationen geben die Runen vor, hier ist die erste.

      Die Urbedeutung von Fehu ist Vieh. Hausrinder waren gemeint: Tiere, die sich treiben lassen, die deinen (oder unseren) Wohlstand darstellen. Fehu kann alles bedeuten, was mit deinem Potential zu tun hat und seinen Möglichkeiten. Freyr ist einer der Großen, der die Schöpfung hütet. Er ist vermählt mit Gjerda, jener Riesin, die wir Menschen als Vegetation erkennen: Jeden Frühling legt sie sich erneut auf die Erde mit ihrem Leib, der blüht, glänzt und schillert in den erstaunlichsten Farben. Ihr Göttergatte Freyr steuert und bewacht auch die Wunder der Fortpflanzung (doch dafür gibt es eine Extrarune, die erst später dran ist).

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